Vorne links sitzt jemand im Bademantel auf einem Sofa. Im Hintergrund sind Softboxen eines Fotostudios zu sehen.

Neues aus den Trümmern

Henrik Ibsen: Die Wildente

Theater:Festival d'Avignon, Premiere:05.07.2025Regie:Thomas Ostermeier

Beim Festival d’Avignon inszeniert Thomas Ostermeier Henrik Ibsens „Die Wildente“ als Konflikt zweier Familien und ihrer Weltanschauungen. Dabei arbeitet er besonders die sozialen Gegensätze der Figuren heraus.

Avignons Dauergast Thomas Ostermeier kehrt zurück. Nicht nur zurück in die südfranzösische Theaterstadt, wo er bereits etliche Arbeiten zeigen konnte, nein, auch zurück zu Henrik Ibsen, mit dem ihn ebenfalls eine lange Geschichte verbindet. Nach „Nora“, „Hedda Gabler“ und „John Gabriel Borkman“ sowie seinem weltweit gezeigten „Volksfeind“ hat er sich jetzt beim Festival d’Avignon „Die Wildente“ vorgenommen. Danach steht die Inszenierung in der neuen Spielzeit an der Berliner Schaubühne auf dem Programm.

Ostermeier geht nach bewährtem Prinzip vor. Er bleibt nah an der dramatischen Vorlage, fügt ihr nichts hinzu, lässt das dramaturgische Gerüst unangetastet. Aber er unterzieht den Stoff einer grundlegenden Aktualisierung und übersetzt ihn ins Heute. Schon im ersten Akt, wir befinden uns in einem Empfangszimmer des Werle’schen Anwesens, zwei edle Ledersessel bestimmen die Szene (Bühne: Magda Willi), wird klar: Hier ist kein Raum für inszenatorische Umschweife, für Abseitiges oder auch nur für Ibsens zahlreiche Nebenfiguren. Die Regie konzentriert sich voll und ganz auf den Konflikt der Familien Werle und Ekdal, die dahinterliegenden Weltanschauungen und ihre milieubedingten Eigenheiten.

Falsches Spiel

Der alte Werle (Thomas Bading) ist ein Frauenheld und ein opportunistischer Unternehmer. Für sein fragwürdiges Geschäftsgebaren musste der alte Ekdal (Falk Rockstroh) ins Gefängnis gehen. Der gefallenen Familie hilft Werle nur scheinbar uneigennützig wieder auf die Beine: Der alte Ekdal kann sich, bei überdurchschnittlicher Entlohnung, als Schreibkraft bei ihm verdingen. Dem jungen Hjalmar Ekdal (Stefan Stern) ermöglicht er eine Fotografenkarriere und legt ihm bald eine Beziehung mit Gina Hansen (Marie Burchard) nahe, die sich als seine einstige Liebschaft entpuppt. So wächst auch sein uneheliches Kind Hedvig (Magdalena Lermer), von diesem unbemerkt, als das von Hjalmar auf. Erst Werles Sohn Gregers (Marcel Kohler), bis zur brutalen Gnadenlosigkeit seinen eigenen Idealen und Ansprüchen verpflichtet, bringt die unruhestiftende Wahrheit in eine nur mit fragilem Frieden versehene Gesellschaft.

Als sich nach dem ersten Akt die Drehbühne erstmals in Bewegung setzt, bekommen wir Einblick in eine gänzlich andere Realität. Das beengte Zuhause der Ekdals ist aus pragmatischen Gründen sowohl Wohn- als auch Arbeitsort. Hjalmar ist kein Flöte spielender Melancholiker wie bei Ibsen. Nein, in Avignon greift der langhaarige Heavy-Metal-Anhänger zur E-Gitarre und zeigt sich im Stückverlauf zunehmend unbeherrscht. Ostermeier arbeitet in seiner Inszenierung der „Wildente“ auch die sozialen Gegensätze in der Vorlage heraus, tappt aber in die Falle einer allzu plumpen Darstellung. Hjalmar greift schon beim Frühstück zum Bier, wird uns in Unterhose und Unterhemd präsentiert. So tut sich der Verdacht auf, dass hier ein Milieu als exotisches Anschauungsmaterial ausgestellt wird.

Vom Aufgeben und Scheitern

Hedvig, bei Ibsen noch ein Kind, ist bei Ostermeier fast 17 Jahre alt, ein kritischer Geist, der weiß, was er will. Die Befreiung der Hedvig aus der unmündigen Rolle der ergebenen Tochter ist durchaus sympathisch. Der tragische Dramenschluss, Hedvigs Suizid, wirkt so allerdings wenig zwangsläufig. Konsequent zu Ende gedacht wäre in der Aktualisierung ein anderes, neues Finale überzeugender gewesen. Überhaupt stellt sich die Frage, wie Themen wie die Wiederherstellung der Familienehre sinnvoll in die Gegenwart übertragen werden können.

Gregers, der aus den Trümmern das Neue entstehen lassen will, ist die vielleicht spannungsreichste Figur an diesem dreistündigen Theaterabend. Sein Idealismus, das rigorose Einstehen für die Wahrheit, wird allmählich in seinem ganzen Wesen erkennbar. Im Aufeinandertreffen unterschiedlicher Weltanschauungen, im Kampf des Phlegmatikers mit dem Idealisten in Aufbruchstimmung, entwickelt die Inszenierung dann aber doch eine unerwartete Kraft. Und auch 140 Jahre nach seiner Uraufführung zeigt uns das Stück „Die Wildente“ das grausame Scheitern der Menschen an der Realität.