Szene aus "Leonce und Lena"

Der Zustand unserer Zeit?

Georg Büchner: Leonce und Lena

Theater:Deutsches Theater Berlin, Premiere:20.01.2023Regie:Ulrich RascheKomponist(in):Nico van Wersch

Black. Schwarz. Aus der Dunkelheit schälen sich Gestalten, schleppend, krumm, aber unaufhaltsam schreitend. Schritt um Schritt um Schritt drängen sie voran. Eingebunden in ein System, das wie lähmend auf ihnen liegt. Doch Schritt um Schritt geht es weiter.

Der Staat: „Was ist denn nun das für gewaltiges Ding?“ Im Juli 1834, als Georg Büchner in seinem Flugblatt „Der Hessische Landbote“ diese Frage stellte, glich das System aus Regierung, Volk und Gesetzen in den Augen derer, die sich wie Büchner als Protagonisten des Vormärzes politisch engagierten, einer einzigen, düsteren Unterdrückungsmaschinerie. „Es sieht aus, als hätte Gott die Bauern und Handwerker am 5. Tage, und die Fürsten und Vornehmen am 6. gemacht, und als hätte der Herr zu diesen gesagt: ‚Herrschet über alles Getier, das auf Erden kriecht‘, und hätte die Bauern und Bürger zum Gewürm gezählt.“ Das waren nicht nur mit biblischer Wucht gesetzte Worte. Bis auf den letzten Gulden genau listete Büchner in seinem Schreiben auf, wie viele Steuern die Einwohner Hessens jährlich unter großen Entbehrungen – der Hunger war allgegenwärtig – an die Regierung abzuführen hatten, während es den „Vornehmen“, auch Dank der Steuern, prächtig ging.

Was passiert mit einem solchen Setting, wenn man es ins Heute transferiert? Gleich in der ersten Szene in Ulrich Rasches neuester Inszenierung „Leonce und Lena“ am Deutschen Theater Berlin wird das Wort „Staat“ wie die Mauer einer Trutzburg – oder eines Parlaments? – in den Raum gemeißelt. Es ist das erste Wort an diesem Abend und steht, in Rasche-typischer Drastik chorisch gesprochen, monolithisch und damit wie ein Angriffsziel da, auf das sich die Masse der „Ausgebeuteten“, zehn Spielerinnen und Spieler des DT-Ensembles in schwarzen Hosen und schwarzen Hoodys, unaufhaltsam gegen die Drehbühne anschreitend zubewegt.

Der Nihilismus der Reichen

Der Kleidung nach (Kostüme Romy Springsguth) könnten es Autonome sein, doch die Bilder von den Angriffen auf die Parlamente in Washington, Berlin und Brasília zeigen, dass derartige Kategorien, politisch links oder politisch rechts, derzeit nicht mehr so ganz taugen. Stattdessen dreht sich, von rotem, gelbem, grünem Neonlicht bestrahlt (Licht: Cornelia Gloth), in kühlem Industrial Chic ein riesiges Gitterrost im Raum (Bühne: Ulrich Rasche), das vielleicht ein klein wenig zu deutlich auf „die dort unten“ verweist. Auf diejenigen, die sich real dort befinden, und diejenigen, die es krude behaupten, quer durch die Parteien und Fronten.

Was hat das alles mit „Leonce und Lena“ zu tun? Die Geschichte um den Prinzen und die Prinzessin, die, ohne sich zu kennen, verheiratet werden sollen, daraufhin flüchten, sich dann aber doch begegnen und verlieben, blitzt in kurzen Fragmenten immer wieder aus dem chorischen Sprachfluss hervor. Erscheint ein Rasche-Ensemble zunächst wie ein einziges, waberndes Sprachmonster, schälen sich auch in dieser Inszenierung – Rasche arbeitete hier das erste Mal mit dem Choreografen Jefta van Dinther zusammen – einzelne Charaktere aus der Masse heraus: Marcel Kohler als Leonce, Julia Windischbauer als Lena, Enno Trebs als Valerio.

Sie schaffen die komplizierte Operation, trotz des starren Korsetts aus Bewegung und Sprache individuelle Seelenzustände zu zeichnen. Rasche hat den Figuren dabei alle ironische Operettenhaftigkeit, die man im Sinne der gesellschaftskritischen Groteske theoretisch auch aus dem Stoff herausarbeiten könnte, ausgetrieben. Sein Blick ist auf die große Melancholie gerichtet, die bei Büchner hinter der Groteske steckt. „Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag“ – Sätze wie dieser aus dem „Hessischen Landboten“ grundieren die Darstellung der Herrschenden, zu denen Leonce und Lena als Prinz und Prinzessin unzweifelhaft zählen. Sie erscheinen erstarrt in ihrem Wohlstand, mit fahlen Gesichtern und Selbstmordgedanken im Kopf gefangen in einem fast Camus-haften existenziellen Nichts, aus dem kein Geld der Welt hinausführt. Der Zustand unserer Zeit?

Neue Energie

Herrschaft, Masse, Ausbeutung, Gerechtigkeit – all das sind Worte, die man, ohne pathetisch zu klingen, auf der Bühne im Rückblick auf die politischen und ideologischen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahrhunderte eigentlich nicht mehr ungebrochen aussprechen kann. Das Verblüffende ist: Rasches Ensemble kann. Wenngleich Auftritte wie die des Königs (Almut Zilcher) mit dem dreifach mit Ausrufezeichen versehenen Wort „der Mensch“ oder Valerios gleichsam in den Raum gestanztes „die Welt“ angesichts der behaupteten Größe hier und da noch ein Kichern im Publikum hervorrufen, verändert sich die Wahrnehmung des Gesagten im Verlaufe des Stücks fast haptisch.

Das hat sehr viel oder gar alles mit der ästhetischen Methodik Rasches zu tun. In dem künstlichen, nahezu totalitären Setting ist es der Rhythmus aus Schreiten, Sprache und Sound, der entscheidend ist. Was schnell droht, zur Masche zu gerinnen, wirkt hier wie ein Katalysator. Wieder hat Rasche mit dem Komponisten Nico van Wersch zusammengearbeitet, der für die Live-Musiker Carsten Brocker, Katelyn Rose King, Špela Mastnak und Thomsen Merkel eine Elektrosound-Partitur komponiert hat, die einen unweigerlich hineinzieht in einen hypnotischen Sog. Es verhält sich daher vielmehr so: Gerade weil alles extrem artifiziell ist, bis hin zur Mikrofonierung, die jeden Atemzug, jedes Hecheln und Schmatzen der Schauspielerinnen und Schauspieler hörbar macht, begegnen einem die Worte, die schon so oft von Bühnen und Podien gesprochen wurden, wieder ganz neu.

„Leonce und Lena“ ist mit seiner Länge und manischen Monotonie ein gänzlich widerspenstiger Abend. Ein Abend, der einen abstößt und gleichzeitig anzieht. Der völlig inkommensurabel und gleichzeitig faszinierend ist. Ein Ansatz, der in Zeiten der Diskussion um Vermittlungsarbeit und den Unterhaltungsfaktor von Kunst gefährdet scheint. Doch nicht nur die Ästhetik macht es einem nicht leicht, auch Texte wie Büchners „Hessischer Landbote“, der auf Bühnen schon so oft wohlfeil für den vermeintlich revolutionären Geist des bürgerlichen Theaters verkauft wurde, changieren plötzlich in den unterschiedlichsten ideologischen Farben.

Sind tatsächlich diejenigen, die alle ökonomischen Mittel in der Hand haben, um zu handeln, unwillig oder unfähig, es zu tun? Mit dieser Frage lässt der Abend die Zuschauer im besten Sinne allein. Am Ende dieser erschöpfenden, aufwühlenden, sperrigen Inszenierung heißt es nicht einfach „Black“ und Schluss. Vielmehr sehen wir, während die Gestalten auf der Bühne weiterhin unaufhaltsam schreiten, den eisernen Vorhang langsam nach unten fahren. Der Blick in eine Welt, die sich zweieinhalb Stunden vor uns entfaltet hat, verschließt sich, ohne dass sie aufhört zu existieren. Nur wir, die wir im Publikum sitzen, schauen weg, greifen nach unseren Jacken und eilen zur Party. Hinter dem Vorhang aber, so könnte man denken, geht das Schreiten und Schreiten immer weiter.