Eine Person hebt an der linken Seite der Bühne das Bein zur Arabesque. Rechts sitzt eine Gruppe von Menschen, die dabei zuschauen.

Carpe Diem!

Ligia Lewis: deader than dead

Theater:International DANCE Festival München, Premiere:22.05.2025 (DE)Regie:Legia Lewis

Mit „deader than dead“ eröffnet die Choreografin Ligia Lewis das diesjährige „International DANCE Festival“ in München. Das Stück zeigt, dass Vergänglichkeit und Tod allgegenwärtige Begleiter des Alltags sind. In den nächsten Tagen können sich Besucher:innen neben weiteren internationalen Gästen auch auf Mitglieder der Münchener Ballroom-Szene freuen.

Der Raum strahlt eine klinische Atmosphäre aus. Er ist mit gelben Mattenquadraten ausgelegt. An den Wänden und am Boden warten Neonröhren darauf, vom Strom zum Leuchten gebracht zu werden. Plötzlich geht im Hintergrund eine Tür auf. Drei Gestalten brechen herein: energetische Kraftpakete, die einen kurzen Moment lang wie befreit umherhüpfen. Doch für zwei von ihnen tritt schnell eine lange Phase des Stillstands ein. Ligia Lewis – Choreografin der erstmals in Deutschland gezeigten Tanzperformance „deader than dead“ – und Justin F. Kennedy bleiben mit ihren Füßen am Boden kleben.

Beeindruckend nah am Publikum

Ihre Köpfe kippen vornüber auf die Brust und die jetzt energieleeren Körper werden durch deren Gewicht zeitlupenlangsam nach unten gezogen. Corey Scott-Gilbert hingegen macht – direkt vor der ersten auf Kissen sitzenden Zuschauerreihe angekommen, so dass er manchmal fast hineinzufallen droht – noch eine Weile weiter. Die Haare seiner Perücke, die er sich später in einem erneuten Ausbruch von quicklebendigem Aktionismus herunterreißen wird, stehen ihm quasi elektrostatisch aufgeladen zu Berge. Rein schon vom imposanten Körperbau her ist Scott-Gilberts hohe, durchtrainiert-schlanke Erscheinung unheimlich beeindruckend. Doch zunehmend verliert er die Kontrolle über sein Tun.

Ein Tänzer liegt auf dem Rücken, in der Hand ein Mikrofon, in das er spricht.

Corey Scott-Gilbert spricht in sein Mikrofon. Foto: Albert Vidal Vertex Comunicacio

Die Bewegungsimpulse verselbständigen sich. Der Arm, mit dem Scott-Gilbert nach etwas zu greifen scheint, schlägt gegen seinen Oberschenkel. In seinem Inneren rauschen wohl Erinnerungen vorbei, die ihm aber – das deuten kleine Gesten an – dermaßen schnell wieder entgleiten, wie sie ihm durch Kopf und Körpergedächtnis schießen. Mit der Anmutung eines Tänzers, der vor einem Auftritt noch einmal grob den Ablauf seiner Rolle bloß stellenartig genauer durchmarkiert und dabei nicht mehr so recht weiß, wie ihm geschieht, wird Scott-Gilbert mit teils schlurfenden Beinen mal in die eine, mal in die andere Richtung gezogen. Dabei haucht er in ein loses Mikrofon „Tomorrow and tomorrow, and tomorrow creeps in this petty pace from day to day“ – Worte aus Shakeapeares letztem „Macbeth“-Monolog. Stets stockend in seinem Bewegungsfluss.

Auf und Ab

Regelrecht mühelos verknüpft Lewis Tanz, Theater, Musik und Gesang zu einem Gesamtarrangement, in dem die Interpreten immer wieder entkräftet zusammensacken, todesartig umfallen, wie leblos herumliegen oder sehr bildhaft wie vom Tod an die Wand geklatscht das Spektrum „Sterben“ mit dem Gefühl von Sinnlosigkeit und Momenten slapstickartiger Absurdität angereichert in allen möglichen Variationen durchspielen. Dabei beansprucht jedes der Elemente eigenständig für sich Bedeutung. Irgenwann ruft Scott-Gilberts laut „Off“. „Complainte: Tels rit au main qui au soir pleure (Le remède de Fortune)“ des französischen Komponisten und Dichters Guillaume de Machaut erklingen. Zweimal taucht ein vierter Darsteller (Jasper Maralis) auf, schleicht sich ins Bild, singt beziehungsweise raunt kaum verständlich einige Sätze und geht wieder ab.

Gibt es ein Morgen? Mit dieser Frage wird das Publikum zum Auftakt des International DANCE Festival München anhand extremer Körperlichkeit konfrontiert – und durch eine performative Arbeit, die Vergänglichkeit und den Tod als ständig präsenten Begleiter des Lebens mit dem Mittel einer streckenweise ausdruckslosen Darbietungsform thematisiert. Diese allerdings bringt das Performer-Trio brillant auf den Punkt und nimmt dem Stück damit viel von seiner sonstigen inhaltlichen Schwere. Mit der bisweilen fast vor unverschämten Leichtigkeit trotzigen Tanzwut, die sich zwischendrin Bahn bricht in einer streng linearen Dreier-Formation, verwandeln sie das dominierende barocke Vanitas-Motiv in ein schrecklich schönes, plastisches Plädoyer fürs Leben.

Drei Tänzer:innen hübfen hintereinander her. Ihre Arme sind jubelnd über die Köpfe gehoben.

Die Tänzer sprühen vor Leichtigkeit und kraftvoller Dynamik. Foto: Albert Vidal Vertex Comunicacio

Live und auf Leinwand

Das Programm der 19. Münchner Tanzbiennale für zeitgenössischen Tanz unter neuem Namen hat erstmals der Regisseur, Dramaturg und Kurator für Musik und Medienkunst Tobias Staab kuratiert. Zahlreiche Verbindungen zwischen Tanz und Bildender Kunst zeichnen seine erste Festival-Edition aus. Dies spiegelt sich in vielen Produktionen wider oder in der engen Kooperation – wie im Fall der Einladung von Ligia Lewis – mit Museen wie dem Haus der Kunst.

Lewis Einstünder „deader than dead“ entstand vor fünf Jahren in Los Angeles. Als die Covid-Pandemie in den USA überproportional hohe Krankenhausaufenthalte und Todesfälle in der Schwarzen Bevölkerung zur Folge hatte. Gleichzeitig erreichte die Black-Lives-Matter-Bewegung einen Höhepunkt. Den damaligen Einschränkungen öffentlicher Aufführungen ist eine verfilmte Version des Stücks zu verdanken. Diese zeigt das Haus der Kunst im Anschluss an zwei Live-Aufführungen bis zum Ende des DANCE-Festivals gemeinsam mit der Videoarbeit „A Plot, / A Scandal“, die sich noch extremer mit Macht und kolonialem Erbe auseinandersetzt, im Rahmen der ersten Einzelausstellung der in Berlin lebenden dominikanisch-amerikanischen Künstlerin. Die Ausstellung trägt den Titel „study now steady“.

Mehr vom International DANCE Festival München (22. Mai bis 1. Juni 2025)

Im Anschluss an „deader than dead“ von Ligia Lewis entert das Kollektiv (La)Horde am Eröffnungstag das Muffatwerk. Das seit 2019 gemeinsam von den Künstlern Marine Brutti, Jonathan Debrouwer und Arthur Harel geleitete Ballet National de Marseille sprüht in seiner performativen Ausstellung „The Master’s Tool“ immer und immer wieder „Tomorrow is canceled“ auf den Boden rund um eine Stretchlimousine mit kaputter Frontscheibe.

Auch hier kämpfen Protagonisten mit der Vergeblichkeit des Seins. Die Zeiten sind prekär, Zukunft ungewiss. DANCE reagiert darauf. „The Master’s Tool“ vereint in Endlosschleife und in einem Ambiente, durch das sich die Zuschauer frei bewegen können, Tanz, Musik und Videokunst zu einem energiegeladenen interaktiven Happening. Zentraler Kern ist die Neuinterpretation subkultureller Tanzstile wie Jumpstyle, die als Ausdruck von Rebellion und Widerstand auf der Straße und im digitalen Raum des Internets entstanden sind.

Tänzer:innen knien um ein Auto herum. Das Auto ist mit Graffiti besprüht. Auch auf dem Boden sind gesprühte Zeichen zu sehen.

Das Kollektiv (LA) HORDE kniet um eine besprühte Limousine. Foto: Albert Vidal Vertex Comunicacio

Die Frage „was kann Tanz, was können die Künste leisten – welche gesellschaftliche Rolle können sie spielen in dieser Welt im Unruhezustand“ hat Tobias Staab als neuen Festivalleiter primär inspiriert. Die „Erfolgslinie des Festivals“ möchte der 44-Jährige weiterdenken und mit eigenen Akzenten auffrischen. Anne Teresa De Keersmaekers „Fase – Four Movements to the Music of Steve Reich“ genießt Kultstatus, war aber noch nie in München zu sehen. Marcos Morau – seine Kompanie La Veronal ist Garant für mystische, (alp)traumhafte Tanzstücke – gibt mit „Totentanz – Morgen ist die Frage“ sein München-Debüt. Die lokale freie Szene vertreten Diego Tortelli & Miria Wurm mit „Terranova“, Moritz Ostruschnjak bringt in „Cardboard Sessions“ den urbanen Tanz in die Pinakothek der Moderne.

International in München

Serge Aimé Coulibaly aus Burkina Faso stellt drei Gewinner seines dortigen Solo-Wettbewerbs „Africa Simply the Best“ vor. Und für die ebenfalls von den Münchner Kammerspielen koproduzierte Auftragsarbeit „ÔSS“ (kreolisch für „Knochen“) arbeitet die inklusive Kompanie „Dançando com a Diferença“ aus Madeira mit der bahnbrechenden Choreografin Marlene Monteiro Freitas zusammen. Neu im Fokus ist die Integration von Clubkultur, die ihre Plattform normalerweise „abseits des künstlerischen Mainstreams“ findet. Mit ins Boot geholt wird die Münchner Voguing-Ballroom-Szene. Sie ist für den „Animal Kingdom Kiki Ball“ verantwortlich.

Zwei Tänzer:innen knien bei einer Person mit Glatze, die angestrengt ihr Gesicht verzerrt.

Marlene Monteiro Freitas‘ Stück „ÔSS“. Foto: Carlos Fernandes

Darauf – und auf die extravaganten Catwalk-, Tanz- und Mode-Wettbewerbe (Balls) – kann man sich mit Jennie Livingstons legendärer Dokumentation „Paris is Burning“ vorbereiten. Der 1990 in New Yorks Stadtteil Harlem gedrehte Film hat die queere Szene und Popkultur maßgeblich geprägt.

Voguing ist ebenso ein Bestandteil in Alice Ripolls jüngster Arbeit „Zona Franca“, die den Aufbruch und die Hoffnung nach dem demokratischen Machtwechsel in Brasilien einzufangen sucht. Trajal Harrell hat internationale Anerkennung durch eine Reihe von Arbeiten erlangt, die die Tradition des Voguing mit dem frühen postmodernen Tanz verknüpfen. Mit seinem frühen Signaturstück „Judson Church is Ringing in Harlem (Made-to-Measure)/Twenty Look or Paris is Burning at the Judson Church (M2M)“ kehrt er nach sechs Jahren Abwesenheit nach München zurück.

DANCE als Ort der Vielfalt

„This resting, patience“, Ewa Dziarnowskas sinnliche Erforschung von Nähe und Distanz, Einsamkeit und Intimität dauert drei Stunden. Rausgehen und wiederkommen darf das Publikum auch in Jefta van Dinthers bislang größtem interdisziplinärem Projekt „Ausland“. Thema hier ist das Abtauchen in alternative Bewusstseinszustände, um den realen Herausforderungen der Welt zu entfliehen. Als schrägstes Zusammentreffen eines Choreografen mit einem bildenden Künstler könnte sich „Radio Vinci Park“ von François Chaignaud und Théo Mercier entpuppen – ein nicht ungefährlicher Balztanz in bedrohlicher Atmosphäre zwischen Mensch und Maschine.

Mit kraftvollem Stampfen und provokativen Posen hinterfragen Davi Pontes und Wallace Ferreira aus Brasilien in ihrer „Repertório“-Trilogie – völlig nackt – die gesellschaftliche Zuordnung ihrer Körper. Menschen aus verschiedenen Stadtteilen, Ländern, Kulturen, Religionen und sexueller Orientierung will DANCE friedlich zusammenbringen. Das Festival soll ein Ort auf Zeit für vielfältige Begegnungen sein. Ab und an tut es ja gut, aus seiner Komfortzone geschubst zu werden.