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Der Kapitalismus ist die Hölle

Richard Siegal: In Medias Res

Theater:Ruhrtriennale/Pact Zollverein, Premiere:13.08.2016 (UA)Komponist(in):Lorenzo Bianchi Hoesch

Sich immer wieder neu zu erfinden, also die ständige ästhetische Metamorphose scheint die künstlerische Biographie des Choreographen Richard Siegal elementar zu prägen. Von der Entwicklung der If/Then-Methode über die Dekonstruktion klassischer Ballettelemente bis hin zur eher tanztheatertypischen Entwicklung von Stücken gemeinsam mit den Tänzern geht der Choreograph immer wieder neue Wege. Die Co-Autorenschaft der Tänzer hat er nun bei seiner neuen Uraufführung „In medias res“ forciert, Teil II der Trilogie, die er im Rahmen der Ruhrtriennale entwickelt. Alle drei Teile orientieren sich thematisch an Dantes „Göttlicher Komödie“, stellen ganz elementar die Frage danach, wie historisch entstandene Vorstellungen à la Fegefeuer oder Läuterungsberg heute bzw. heutig zu denken sind.

Die Choreographie „Model“, Teil I der Trilogie, die sich mit dem Inferno befasste, gestaltete Siegal nicht nur erwartbar düster, sondern durch die körperlichen Herausforderungen an die Tänzer und einem für alle Anwesenden strapaziösen Licht- und Musikkonzept überfordernd und überreizend. Deutlich weniger auf Konfrontation, jedoch ebenfalls herausfordernd ist nun „In Medias Res“ angelegt. Was Richard Siegals Arbeiten über alle künstlerischen Entwicklungen hinweg verbinden mag, sind die Vielschichtigkeit, die Intellektualität, der Bruch mit Konvention und Erwartung. Was in dieser Hinsicht bei diesem neuen Stück am meisten verblüfft, ist, dass der Zuschauer (im Kontrast zum extrem körperbetonten ersten Teil der Dante-Trilogie) keineswegs einen ausschließlichen Tanzabend sieht, sondern ein mitunter installatives Nebeneinander von Tanz, Bühnengestaltung, Video, Licht und Ton. Zweifellos ist „In Medias Res“ allerdings durch Bewegung getaktet. Zu der flirrenden, oftmals lärmenden elektronischen Kulisse, die der Komponist Lorenzo Bianchi Hoesch (wie schon zu Teil I) kreiert hat, zeigen die Tänzer, begleitet von Cello und Kontrabass, in szenischen Fragmenten illustrative Vorstellungen dessen, was das Purgatorium eben darstellt: einen Ort der Buße.

Bühne und Kostüme erinnern an eine Müllhalde, auf der in ferngesteuert wirkender Geschäftigkeit die verschiedensten Überreste menschlicher Zivilisation vom Sofa bis zur Kleiderstange herumgeräumt, hinein und hinaus gebracht werden. Es herrscht ein geschäftiges, unbeirrtes Treiben in maximaler Parallelität: Die in der Purgatorio thematisierten Sünden werden in Form eines Siebengänge-Menüs an einem Tisch am vorderen Bühnenrand serviert, während sich die Tänzer in verschiedenen Reinigungsritualen üben und eine Art Conférencier (Frédéric Stochl, der sonst den Kontrabass spielt) Gedichte von Antonin Artaud zitiert und mit kratzender Stimme immer wieder das Geschehen kommentiert akustisch leider trotz Mikroport schwer verständlich. Die getanzten Elemente zitieren assoziativ bekannte Bewegungsmuster wie beispielweise Tai Chi, erinnern aber auch mal an Roboter oder Zombies, vollziehen sich erst in Zeitlupe und dann in energetischer Explosivität. Sie sollen offenbar auch den Versuch eines Widerstands gegen das Gottesgericht zeigen, weshalb auch ikonographische Bilder verschiedenerer Widerständler wie Ulrike Meinhoff im Bühnenbild integriert sind. Sehr selten sind klassische Elemente wie Pirouetten zu sehen. Ein linearer choreographischer Faden ist in dieser wilden, aus der Improvisation entstandenen Mischung kaum erkennbar. Doch eine klassisch gedachte Choreographie will Siegal dem Publikum wohl auch gar nicht zeigen, obwohl der knapp einstündige Abend erkennbar einer fokussierten Dramaturgie folgt. Äußerste Konzentration und Präzision zeigen dabei sowohl die vier Tänzer (Corey Scott-Gilbert, Kévin Quinaou, Diego Tortelli und Vânia Vaz) als auch die Musiker Stochl und Wolfgang Zamastil (Cello).

Wiederum auf Überforderung zielt „In Medias Res“ also insofern, als in dieser kontinuierlichen Kulisse des Unheimlichen auf der Bühne stets mehrere Dinge gleichzeitig passieren, die Sinne der Zuschauer intensiv gefordert werden und mit konventionellen Tanzerwartungen gebrochen wird. Besonders überraschend und überzeugend ist Richard Siegals ironische Übersetzung der Reinigungsrituale in unser kapitalistisches System. So, wie auch schon Dantes Purgatorio als das weltlichste der Jenseitsreiche galt, verbinden auch Siegal und seine Tänzer das Geschehen assoziativ mit realen Mechanismen. Über den gesamten Abend hinweg werden die Tänzer durch ihren Tanz im Staub der postapokalyptischen Müllhalde immer schmutziger: Sie arbeiten, um Gnade zu erlangen – Siegal nennt es im Programmheft die spirituelle Ökonomie. Gerade an indoktrinierten Vorstellungen einer idealen Welt bzw. der Läuterung reibt sich Richard Siegal offenbar: Als die dreckige Kulisse am Ende spektakulär in einem Tor verschwindet, waschen sich die Tänzer ganz einfach den Schmutz von den Körpern, ehe sie das Portal zum Paradies durchschreiten, über dem in verwaschener Schrift in großen Lettern steht: Tout est pardonné, alles ist vergeben. So einfach dieses Bild, so komplex ist dieser multiästhetische Abend, in dem der Tanz selbst allerdings auf der vielfach von Requisiten dominierten Bühne, also inmitten der Dinge, insgesamt etwas ins Hintertreffen geriet. Das ist, bei aller Anerkennung für das gelungene Gesamtkunstwerk, durchaus eine kleine Enttäuschung. Bleibt abzuwarten, wohin sich Choreograph Richard Siegal im kommenden Jahr für den letzten, paradiesischen Teil seiner Trilogie entwickelt.