Foto: Sandra Hüller und Michael Graessner im installativen Setting bei "Die Hydra" in Bochum. © Thomas Aurin
Text:Hans-Christoph Zimmermann, am 12. Oktober 2019
Das Krokodil grinst ins Publikum. Das Wissen der Urzeit liegt zähnefletschend auf der Bühne der Bochumer Kammerspiele und lässt die Akteure belanglos erscheinen. Sandra Hüller und die Musiker Moritz Bossmann und Sandro Tajouri plaudern über Feedbackschleifen, über Musiker und Bands. Während sich das Krokodil dann langsam in Bewegung setzt, legt Hüller eine riesige rosa Schleife an und spricht Heiner Müllers Prosaminiatur über die Befreiung des Prometheus durch Herakles. Der Ton ist ruhig, fast beiläufig und steht in Kontrast zu dem pathetisch-aktionistischen Duktus des Textes. Die Gestik allerdings verdoppelt das Gesagte. Die Hände heben sich, wenn von den Göttern, greifen zur Nase, wenn vom Gestank, legen sich zwischen die Beine, wenn vom Geschlecht die Rede ist. Offensichtlich spielt die Metapher der Schleife an diesem Abend eine wichtige Rolle. Nicht nur im Kostüm, in der Rückkopplung von Gestik und Text oder der orgeltonartigen Feedbackschleife von Mikro und Verstärker. Wenn der Abend über den mythischen Helden Herakles und seine zwölf Aufgaben den Auslöser dieser Pflichten, nämlich die im Wahnsinn begangene Ermordung von Frau und Kind, erst am Ende nachliefert, dann kehrt die Inszenierung quasi schleifenhaft an ihren Anfang zurück. Vernichtung reloaded.
Die Figur des Herakles hat Heiner Müller in seinem Werk immer wieder beschäftigt. Er sah in ihm ein Symbol für den Arbeiter, der unreflektiert, aber gewissenhaft seine Pflicht erfüllt und dabei die Welt und sich selbst zerstört. Das Anthropozän als Höhepunkt und Krise. Regisseur Tom Schneider und Dramaturg Tobias Staab haben für ihre Inszenierung „Die Hydra“ am Bochumer Schauspielhaus drei Texte ausgewählt: neben der Befreiung des Prometheus Herakles‘ Kampf mit der Hydra und schließlich den Totschlag an der eigenen Familie. Der Abend deutet Müllers Texte allerdings nicht, benennt nicht mal ihre Ambivalenz, sondern schafft ein installatives Setting, in dem sie wie düstere Solitäre glänzen, umgeben von einfachen Bildmetaphern und Alltagstexten.
Kaum ist Prometheus befreit, schleppt Ausstatter Michael Graessner in einer zwanzigminütigen Szene Hausrat vom Sofa bis zum Sideboard auf die Bühne – als Bild der zivilisatorischen Überformung von Welt. Das Krokodil hat da schon längst aus dem Staub gemacht. Für Tiere, sprich Natur, ist kein Platz mehr. Sandra Hüller raunt dazu ein paar ungeordnete Gedanken in den Raum: von sozialem Tun als eigentlicher Arbeit, vom Verlust der Kollektivität sowie der Allmende, von der Zivilisation als Verfügbarmachung der Welt oder vom Kapitalismus durch Protestantismus, also die so abgegriffene wie falsche Max-Weber-These. Alles hübsche Ideen, doch nichts davon wird entwickelt. Es bleiben gedankliche Brosamen, die dem Zuschauer als Futter vor die Füße geworfen werden. Die Inszenierung hat in ihren Behauptungen mitunter einen Zug ins vordergründig Prätentiöse – ohne an die gedankliche Fallhöhe von Müllers „Hydra“-Text oder gar moderne Arbeitstheorien heranzukommen.
Vorhersehbar hält am Ende die Apokalypse Einzug auf der Bühne: Der Bühnenteppich zieht sich zusammen und der zivilisatorische Hausrat türmt sich zu einem Müllberg. Klimakatastrophe, grenzenloses Wachstum, Ausbeutung der Ressourcen, Leistungsgesellschaft und Depression, Migration, die Schere zwischen Arm und Reich – jeder kann die Gründe herbeten, aber auch die merkwürdige Unverletzlichkeit des Kapitalismus benennen. Heiner Müllers Text „Herakles 13“, der die Ermordung der eigenen Familie beschreibt, spricht Sandra Hüller dann erwartungsgemäß als Mahnung auf der Vorbühne: Die Zerstörung unserer Lebensbasis wird auch vor der Vernichtung unserer Nächsten nicht Halt machen. Man verlässt das Theater mit dem Gefühl einer tiefen Leere: Die Menetekel an der Wand sind bekannt, über Heiner Müller nicht viel Neues – für den „vorläufig Schlacht benannten Zeitraum“, wie es im „Hydra“-Text heißt, sind wir denkbar schlecht gerüstet.