Szene aus "Die Katze Eleonore"

Tiere und Politik – Rückblick auf die 48. Mülheimer Theatertage

Die 48. Mülheimer Theatertage zeigten drei Wochen lang die Vielseitigkeit der deutschsprachigen Dramatik. Dass „Die Katze Eleonore” von Caren Jeß aus Dresden gewann, war kein Zufall. 

So viel Tier war nie. Die diesjährigen 48. Theatertage in Mülheim dürften die animalischsten seit Jahren gewesen sein. Schon bei dem Wettbewerb der Kinder- und Jugendstücke tigerten lahme Enten, blinde Hühner oder artenfluide Seejungfrauen über die Bühne. Im Erwachsenenwettbewerb hatten dann vor allem Katzen ihren großen Auftritt.

Martin Heckmanns brachte die Bremer Stadtmusikanten auf die Bühne. In der Golda Bartons Tschechow-Überschreibung „Sistas!“ schlüpft die Jüngste des Schwestern-Trios, Ivy, am Ende in ein Katzenkostüm. Und dann war da noch die Dramatikerin Caren Erdmuth Jeß. In Ihrem Stück „Die Katze Eleonore“, das schließlich den mit 15.000 Euro dotierten Mülheimer Dramatikpreis wie auch den Publikumspreis gewann, durchlebt die Immobilienmaklerin Eleonore Garazzo eine veritable Katzenmetamorphose.

 

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Tierische Gesellschaft

Der Monolog, der im Kleinen Haus 3 des Staatsschauspiels Dresden uraufgeführt wurde, beginnt mit einem Blick: Aug in Aug mit einer Katze trifft die Immobilienmaklerin plötzlich der Blitz der Erkenntnis. Sie beginnt, sich die Pfoten zu lecken, besorgt sich ein Echthaarfell und lässt es für 2000 Euro maßschneidern. Statusgemäß, könnte man sagen. Denn die Maklerin, für deren Darstellung Karina Plachetka vielfach gelobt wurde, sympathisch zu nennen, wäre euphemistisch: Sie ist so wohlhabend, dass sie sich den Ausstieg aus der Gesellschaft leisten kann; sie hat mit Verve die Gentrifizierung vorangetrieben und verfrachtet ihre demente Mutter umstandslos ins Pflegeheim.

Szene aus "Die Katze Eleonore"

Karina Plachetka wird für ihre Verwandlung zur Katze überall gelobt.

 

Die Animalisierung der Eleonore Garazzo verläuft allerdings keineswegs reibungslos. Als einziger Kontakt zur Menschenwelt bleiben schließlich Telefonate mit einem als Stimme aus dem Off eingespielten Therapeuten. Caren Erdmuth Jeß‘ Einpersonenstück streift eine Vielzahl virulenter Themen wie Einsamkeit, Identitätswechsel oder gesellschaftlicher Normalisierungsdruck, vor allem aber transportiert ihr Stück ein Gefühl des Unbegreiflichen, aber auch der Skepsis, das dieser Metamorphose anhaftet.

Neues Stück über altes Märchen

Erstaunlich am diesjährigen Stücke-Wettbewerb in Mühlheim blieb die Tatsache, dass „Die Katze Eleonore“ sich nur in einem knappen 3:2-Votum gegen Martin Heckmanns Bremer Stadtmusikanten-Stück „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall“ durchsetzen konnte. Das „Singspiel“ nach dem Grimmschen Märchen bringt ein animalisches Quartett auf die Bühne, das diskursiv absolut sattelfest ist. Der Esel weiß über Rationalisierung, Ausbeutung und Grenzen des Wachstums bestens Bescheid. Das Huhn pflegt eine eigene Erinnerungspolitik (Stichwort: Küken) und verträgt sich mit der kommunistischen Katze bestens. Der marxistisch geschulte Hund lässt sogar Flüchtlinge auf den Hof.

Szene aus "Etwas Bessers als den Tod finden wir überall"

In Kassel wurden das Grimm-Märchen über alte Tiere zu einem linken Singspiel.

 

Dagegen sind Bauer und Bäuerin schlicht alles, was die Tiere nicht sind: rassistisch, autoritär, ausbeuterisch, fortschrittsgläubig und ordnungsverliebt. Der Aufstand versandet schließlich an der gut gedeckten Tafel im Haus, die Moral ist perdu. Mag sein, dass die biedere Kasseler Uraufführung durch Friederike Heller dem Stück keinen Gefallen tat. Doch Heckmanns Parabel ähnelt aller Ironie zum Trotz doch mehr einem diskursiven Sightseeing aktueller Theoriearchitekturen als einem politisch eingreifenden Stück.

Fragen der Unsterblichkeit auf der Bühne

Es verblüffte schon, mit welcher Verve die Preisjury, bestehend aus Till Brigleb, Beate Heine, Frederik Tidén, Anita Vulesica und Christine Wahl, sich am Ende zwischen zwei Theaterstücken entschied, die mit den Mitteln anthropomorpher Animalität operierten. Lässt sich das als kritische Reaktion auf das Anthropozän lesen? Oder eher als romantisches Spurenelement in der Klimadebatte?

Die Frage stellt sich umso mehr, als Clemens Setz mit „Der Triumph der Waldrebe in Europa“ in Mülheim einen verblüffend vieldeutigen Text vorstellte: Ein Ehepaar hat sein Kind verloren, weigert sich aber den Tod anzuerkennen und lässt es als Avatar im Rollstuhl mit Kamera weiterleben. Im Netz entspinnt sich daraufhin ein Konflikt zwischen Befürwortern und Gegnern, dem sich auch Presse und Institutionen wie die Schule nicht entziehen können.

Szene aus "Der Triumph der Waldrebe in Europa"

Eine Mutter versucht in „Der Triumph der Waldrebe“ den Tod des eigenen Kindes wegzuspielen.

 

Fragen der Erinnerung, der Unsterblichkeit, aber auch der Wahrheit unter Maßgabe der Digitalisierung werden verhandelt, aber auch Strategien des Opferdiskurses, mit der die Mutter Kritik zum Schweigen bringt. Die Inszenierung des Stuttgarter Schauspiels von Nick Hartnagel arbeitete mit dem Einsatz von Projektionen, die Offenheit des Textes lässt aber sicherlich auch zahlreiche andere Deutungen zu.

Große Auswahl für die Mülheimer Theatertage

Insgesamt 170 Stücke wurden vom Auswahlgremium gesichtet und gelesen. Acht kamen schließlich in die Endauswahl, wovon allerdings nur sieben in Mülheim um den Preis konkurrierten, da die Volksbühnen-Produktion „Geht es dir gut?“ von René Pollesch sich aus technischen Gründen als nicht übertragbar erwies. Im Verlauf der Jury-Debatte verblüffte ein weiterer Befund, der sich durchaus als neo-traditionalistischer Twist lesen lässt: Es waren vor allem Stücke mit klaren Rollenzuschreibungen, Figuren und (zumindest zum Teil) Psychologie, über die lebhaft debattiert wurde.

Zu den drei genannten kam noch Golda Bartons „Sistas!“, eine Überschreibung von Tschechows „Drei Schwestern“, von der Gruppe Glossy Pain uraufgeführt. Wie der Titel verheißt, sind die Schwestern hier PoCs, Kinder eines schwarzen GIs und einer weißen deutschen Mutter, aber alle drei waschechte Berlinerinnen. Der Vater, der bald nach der Geburt der Kinder zurück in die USA ging, komm zu Besuch und die Autorin nimmt das zum Anlass für ein sehr humorvolles Konversationsstück, das die Ambivalenzen des Rassismusdiskurses durchdekliniert, ohne das Faktum selbst zu verkleinern; das aber auch die Figuren in all ihrer Widersprüchlichkeit zeigt.

Szene aus "Sistas!"

Sistas!“ erzählt Tschechows „Drei Schwestern“ mit dem Thema Postmigration.

Keine Chance ohne Figuren in Mülheim?

Ob es sich bei der Präferenz für traditionellere dramatische Formen um die Dynamik einer Jurydebatte handelt oder um ein krisenbedingtes Symptom, wird sich zeigen. Aber es verblüffte schon, mit welcher Entschiedenheit Elfriede Jelineks „Angabe zur Person“, Sivan Ben Yishais „Bühnenbeschimpfung (Liebe ich es nicht mehr oder liebe ich es zu sehr)“ und Katja Brunners „Die Kunst der Wunde“ argumentativ aus dem Wettbewerb gekegelt wurden.

Alle drei Texte operieren mit sogenannten Textflächen, also durchgeschriebenem Text unter Verzicht auf Rollenzuschreibungen. Vor allem Sivan Ben Yishais „Bühnenbeschimpfung“, die das Theater als Institution, Schauspieler:innen und auch das Publikum in den kritischen Blick nimmt, dürfte besser als das etwas herablassende Jurydiktum, aber auch Sebastian Nüblings sehr humorvolle, aber übersteuerte Nummernrevue sein. Anerkennung wiederfuhr immerhin Dauergast Elfriede Jelinek für „Angabe zur Person“, einem sehr persönlichen Stück, das eine Begegnung mit der Steuerfahndung zum Anlass für eine Rekapitulation der eigenen Biographie nimmt – kongenial umgesetzt von Jossi Wieler am Deutschen Theater.

Die Frage nach den Trends, die Mülheim alljährlich stellt, lassen sich wie jedes Jahr kaum beantworten. Die Sprecherin des Auswahlgremiums Christine Wahl verwies auf die „hohe Diskursfitness“ und Beschäftigung mit dem „Endpunkt der Gesellschaft“. Ob wir da wirklich sind, sei mal dahingestellt. Verblüfft hat eher die Präsenz der Tiermetaphern und die anhaltende Selbstreferentialität des Theaters. Nachzutragen bleibt, dass der Mülheimer KinderStückePreis an Roland Schimmelpfenning für „Das Märchen von der kleinen Meerjungfrau“ ging. Und Vidina Popov für ihre Darstellung in Sivan Ben Yishais „Bühnenbeschimpfung“ mit dem Gordana-Kosanović-SchauspielerInnenpreis ausgezeichnet wurde.