
Furchtbar und schön
Foto: Roland Schimmelpfennig vor der Berliner S-Bahn. © Annette Hauschild/OSTKREUZ Text:Detlev Baur, am 15. August 2024
Roland Schimmelpfennig hat den Text für eine der größten und wichtigsten Produktionen der zu Ende gehenden Spielzeit geschrieben: die fünf Stücke der Antikenserie „Anthropolis“ am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Wir sprachen mit ihm über Antike heute und die demokratische Mission des Theaters, gerade bei Kindern und Jugendlichen.
DIE DEUTSCHE BÜHNE In der Rezeption durch Feuilletons und Festivaljurys ist „Laios“ der Höhepunkt des fünfteiligen Antikenprojekts „Anthropolis“ am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Dabei handelt es sich um einen vielstimmigen Monolog. Bedeutet das für Sie, dass die Dialogfähigkeit unter den Figuren abhandengekommen ist? Und spiegelt sich darin die Sprachlosigkeit beziehungsweise Gesprächsunfähigkeit unserer Gesellschaft wider?
Roland Schimmelpfennig Nein; es ist nur schwer vorstellbar, sich aus heutiger Sicht mit antiken Stoffen zu beschäftigen und dabei in der klassischen Form zu bleiben. Für mich war klar, dass ich keinen Aufguss oder eine Kopie herstellen will, nicht wie eine Art KI, die ein verlorenes Drama der Weltliteratur vielleicht irgendwie stilecht rekonstruieren könnte. Es brauchte eine andere Form des Erzählens, des bewussten Umgangs mit dem Versuch einer Wiederbegegnung. So ist eine gebrochene Form entstanden, mit Figuren, die nicht ausgeschrieben sind. In „Iokaste“, dem vorletzten Teil der Serie, der auch in großen Teilen eine Neudichtung ist, gibt es hingegen Dialog, ganz bewusst, gerade weil der Dialog im Stück in den Verhandlungen während des Waffenstillstands scheitert. Dort, wo er unmöglich ist, da haben wir ihn stattfinden lassen.
DIE DEUTSCHE BÜHNE Die Neudichtungen „Laios“ und „Iokaste“ füllen Lücken in der Rezeption: mit dem Vater des Ödipus, der ja als Mordopfer des König Ödipus eine zentrale Figur ist, den wir aber in den uns überlieferten Stücken nie auf der Bühne sehen – und mit Iokaste, die neben manch anderem Familiendrama, in das sie verstrickt ist, auch Mutter zweier gegenseitiger Brudermörder ist. Sie stellen die tradierten Figurenbilder teils infrage, aber sie sind nicht dekonstruiert oder gar antitraditionell gerahmt, wie etwa in Sivan Ben Yishais „Nora“, das den diesjährigen Stückepreis gewonnen hat. Wie weit ist Überlieferung patriarchaler Kultur Segen, wie weit Fluch?
Roland Schimmelpfennig In sehr engem Austausch mit Karin Beier und der Dramaturgin Sybille Meier haben wir bei „Iokaste“ die Vorlagen bei Euripides und Aischylos untersucht, und von dort die Figur der Iokaste fortgeführt. Sie ist also nicht dekonstruiert, sondern weiterentwickelt, aber, ja, sie scheitert am Ende, so wie auch bei den antiken Autoren; an der Stelle richtet sich das Konzept der Figur nicht gegen die Tradition, allerdings nicht, weil das nicht grundsätzlich möglich wäre, sondern weil die absolute Unfähigkeit ihrer beiden Söhne, also der sich gegenüberstehenden Kriegsparteien, durch Dialog zu einem Frieden zu finden das zentrale Thema des Stücks ist. Die Iokaste-Figur in „Laios“ könnte man dagegen durchaus als leicht dekonstruiert bezeichnen, schon wegen der vier gleichberechtigt nebeneinanderstehenden Varianten, warum Laios und Iokaste gegen den Orakelspruch das Kind Ödipus zeugen.

Maximilian Scheidt (vorn) und Paul Behren als tödlich verfeindete Brüder in „Iokaste“ in Karin Beiers „Anthropolis“-Uraufführung am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Foto: Thomas Aurin
DIE DEUTSCHE BÜHNE Sie spielen die Offenheit der Überlieferung offensiv aus. So bleibt mehrfach uneindeutig, ob nun einverständliche Liebe oder Vergewaltigung vorliegt. Abgesehen davon, dass so die Überlieferung selbst zum Thema wird: Beschreiben Sie durch diese Variationen der „wahren“ Geschichte primär Probleme unserer Kultur in Richtung Überindividualisierung, Blasenbildung oder Fake News? Oder beschreiben Sie damit etwas Positives in der Antikenrezeption, nämlich Chancen einer offenen, demokratischen Gesellschaft?
Roland Schimmelpfennig Um Fake News geht es mir nicht. Es geht um Annäherung durch Erzählung – und das ist vielleicht auch einer der Gründe für den besonderen Erfolg von „Laios“. Die Annäherung an den antiken Stoff durch Fantasie ist ein lustvoller Vorgang, sich widersprechende Varianten dürfen nebeneinanderstehen. Das ist zunächst ein kreatives Statement und kein politisches. Die politische Facette kommt dadurch zustande, dass alle Varianten überhaupt möglich sind. Einer der Gründe dafür, dass „Laios“ nicht schon viel früher fürs Theater adaptiert worden ist, liegt meiner Meinung nach darin, dass man sich im traditionellen Theater für eine Variante hätte entscheiden müssen. Und manche der Varianten wären tabu gewesen – eigentlich alle.
DIE DEUTSCHE BÜHNE Sie haben das Werk in der Pandemie geschrieben. Bietet es mehr Trost durch die neue Ordnung in alten, wirren Geschichten, bei gleichzeitiger Ermunterung zum Aushalten von auseinanderstrebenden Varianten? Oder ist die Gesamtbotschaft nicht doch eher von Trostlosigkeit geprägt: Indem das Scheitern von Demokratie und Humanismus von Beginn der abendländischen Zivilisation angezeigt wird?
Roland Schimmelpfennig Dass wir uns als Publikum um den Stoff versammeln, ist auf der übergeordneten Ebene ein tröstlicher Vorgang, soweit das bei Tragödien möglich ist. Und das ist sicher nicht unwichtig für die Rezeption des Werkes nach der Pandemie, in Hamburg wie auch anderswo: dass die Stadt sich wieder versammeln kann. Theater ist, unter anderem, eine Feier des spielenden, freien Menschen. Nun kann man natürlich sagen, diese Geschichten sind ja furchtbar, muss das denn sein, dass, zum Beispiel, Kreon Antigone in den Tod treibt. Ja, das ist auch eine schreckliche Botschaft, durchaus auch Schauertheater. Aber es ist ja auch ein Lehrstück. Das „Erkenne dich selbst“ des delphischen Orakels ist im Grunde die Überschrift über dem griechischen Theater, und dem folgt „Anthropolis“. Das kann furchtbar sein, und trotzdem ist es schön.
DIE DEUTSCHE BÜHNE In der Antike waren Theater und Demokratie eng miteinander verbunden – Theaterraum und Platz für die Volksversammlung waren in der Agora anfangs derselbe, die „Orestie“ gipfelt in der Einsetzung eines demokratischen Gerichts: Wie sehen Sie heute die Rolle des Theaters, des Stadttheaters in der (parlamentarischen) Demokratie?
Roland Schimmelpfennig Das Stadttheater wird gerne unterschätzt. Es wird auch gerne belächelt. Allein der Begriff Stadttheater ist fast ein Negativbegriff geworden. Ich bin und war viel im Ausland unterwegs und würde im Gegenteil sagen, dass die deutsche Theaterlandschaft ein unendlich großes Kulturgut ist. Das Stadttheater ist nicht mehr in der Form mächtig wie in den 1950er- und 1960er und auch 1970er-Jahren, es ist nicht mehr der zentrale Austragungsort von politisch-historischer Aufarbeitung. Es kann aber eine ganze Menge, wenn auch vielleicht nicht jeden Tag. Es ist durchaus in der Lage, in der Gesellschaft etwas auszulösen, Debatten loszutreten. Außerdem gibt es in den letzten Jahrzehnten gerade in Deutschland eine starke institutionelle Förderung neuer Texte. Es gibt viele junge Autorinnen und Autoren, die durch diese Förderung die Möglichkeit bekommen, sich mit ihren Themen und ästhetischen Ansätzen zu artikulieren.
DIE DEUTSCHE BÜHNE Ist „Anthropolis“ auch eine informative, pädagogische Antwort auf eine immer geringere Kenntnis antiker Figuren und Mythen?

Roland Schimmelpfennig beim Covershooting in Berlin an der S-Bahn-Station Greifswalder Straße. Foto: Annette Hauschild/Ostkreuz
Roland Schimmelpfennig Das war nicht das Ausgangsmotiv. Es ging um die Begegnung mit der Stadt, mit Demokratie und Gesellschaft, mit der Frage: Was ist der selbstbestimmte, freie Mensch? Wie begegnen wir irrationalen Fragen, die sich praktisch-pragmagtischen Antworten entziehen? Das war der erste Gedanke. Und in der Pandemie schien dann die menschliche Gemeinschaft nicht mehr in der alten Weise zu funktionieren. Das Projekt ist ein dem Publikum zugewandter Vorgang. Altertumsforschung wollte niemand betreiben.
DIE DEUTSCHE BÜHNE Sind die Texte für bestimmte Schauspieler:innen geschrieben? Oder war das nur bei „Laios“ und Lina Beckmann so?
Roland Schimmelpfennig Ich habe mir Lina als Schauspielerin dafür sehr gewünscht oder erhofft, aber es gab bei keiner Besetzung die Ansage: Schreibe für den oder die. Das wäre beim Schreiben – wie später auch beim Spielen – auch sicher schwierig gewesen; ich suche einen offenen Ton. Ich kann mir eine bestimmte Stimme sehr gut vorstellen, aber die Sprache wird zu klein, wenn der Ansatz exklusiv ist oder sich an den jeweiligen (angeblichen) „Typ“ der Schauspielerin oder Schauspielers anzulehnen versucht. Ich denke, es ist auch für die Schauspielerin oder den Schauspieler wichtig, wenn der Text immer auch noch ein anderes ist. Diese Distanz ist wichtig, um sich dann begegnen zu können.
DIE DEUTSCHE BÜHNE In der jüngsten Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins ist der Dramatiker Roland Schimmelpfennig im Kinder- und Jugendtheater unter den zehn meistgespielten Autoren. Vor einigen Jahren zählten Sie zu den meistgespielten Gegenwartsautoren im Erwachsenen-Schauspiel. Gibt es in den letzten Jahren (vor „Anthropolis“) ein nachlassendes Interesse vonseiten der „großen“ Theater an Ihren Stücken, oder ist es primär bei Ihnen ein größeres Interesse am jungen Theater?
Roland Schimmelpfennig Ich bin relativ spät zum Kinder- und Jugendtheater gekommen. Eigentlich zu spät, erst in dem Moment, als meine beiden eigenen Kinder schon zu groß dafür waren. Irgendwie ging es nicht früher, oder es flog mir nicht zu. Dann gab es einen Stückauftrag, der ausdrücklich experimentell angelegt war. Da musste ich mich als Autor von Erwachsenentheater und Prosa dann erstmalig wirklich mit dem Kindertheater auseinandersetzen. Und da ging eine Tür auf – und dann schrieb ich „Die Biene im Kopf“. Ich merkte, dass die Form des narrativen Theaters, das ich in diversen meiner Erwachsenenstücke ja auch genutzt habe, im Theater für Kinder und Jugendliche sehr gut funktioniert, dass sie vieles ermöglicht, was mir vorher zu kompliziert erschien.
Der „Zinnsoldat“ ist ein Stoff, der mir schon seit Jahren durch den Kopf ging, und meine Inszenierung am Theater an der Parkaue 2019 war dann eine wunderschöne künstlerische Erfahrung. Aber ich habe immer weiter Erwachsenentheater gemacht, nur nicht immer in Deutschland; zwei Produktionen sind in Kuba entstanden, zwei in Schweden, drei oder sogar vier in Spanien – alles für mich enorm wichtige Arbeiten.
DIE DEUTSCHE BÜHNE Was haben junges Theater und Demokratie miteinander zu tun? Sie haben kürzlich gesagt, das Kinder- und Jugendtheater sei eine Schule der Demokratie.
Roland Schimmelpfennig Meine ersten Kindheitseindrücke im Theater sind sehr, sehr kräftig. Das Theater kann in der Wahrnehmung der Welt bei Kindern sehr viel auslösen. Es ist eine sinnliche Schule, und damit ist es groß und wertvoll, weil es jeglicher Form von Abstumpfung entgegenwirkt. Es eröffnet sinnliche Welten, öffnet den Horizont. Ich darf im Theater als Kind Erwachsenen oder jungen Erwachsenen zusehen, wie sie für mich spielen. Es gibt Musik, Kostüme, Kulissen, es ist ein enormer Vorgang der eines zeigt: Die Welt kann gestaltet werden. Sie kann erfunden werden. Man kann das belächeln, für marginal halten, unterfinanzieren; ich würde aber sagen, es ist von größter Relevanz, und ebenso wichtig ist es, daß Kinder selbst Theater spielen – damit meine ich von Kindern und Jugendlichen gemachtes Theater als Gruppenprozess.
Abgesehen von den Inhalten der jeweiligen Stücke ist das Miteinander unverzichtbar. Und damit sind wir schon in der Nähe von Demokratie. Insofern ist Theater für mich tatsächlich so etwas wie ein gesellschaftliches Friedensinstrument. Man müsste mal forschen, ob faschistisches, antidemokratisches Theater überhaupt existieren kann. Es gab – und gibt – halt Entertainment. Oder Propaganda. Oder Kommerz.
DIE DEUTSCHE BÜHNE Die Nazis haben ihren Versuch, das Thingspiel als völkisches, deutsches Theater zu etablieren, nach wenigen Jahren wieder eingestellt.
Roland Schimmelpfennig In einer Theatergruppe muss Widerspruch möglich sein; Theater hat automatisch eine offene Form, sonst ist es tot. Wenn es gut ist, wird es immer schillern, ambivalent sein – und das ist eine Eigenschaft von Demokratie.

Maren Kraus als „Kleine Meerjungfrau“ in Marcel Kohlers Inszenierung am Theater Heidelberg. Foto: Susanne Reichardt
DIE DEUTSCHE BÜHNE Hat sich Ihr Schreiben nach den Erfahrungen im jungen Theater und nach der Pandemie verändert?
Roland Schimmelpfennig Geblieben ist die Suche. Und es gibt ein immer stärkeres politisches Bewusstsein. Damit ist kein Agitproptheater gemeint, aber Figuren wie das Kind in „Biene im Kopf“, das für sich selbst sorgen muss, oder der „Zinnsoldat“ oder die „Meerjungfrau“ sind politisch. Die faschistische Wolke, die eine Papiertänzerin angreift, wäre ein weiteres Beispiel, genauso wie die Ratte.
DIE DEUTSCHE BÜHNE Wie beschreiben Sie ausgegrenzte Menschen, ohne in Klischees zu verfallen?
Roland Schimmelpfennig Man muss als Dramatiker nicht jede Figur persönlich kennen, um über sie schreiben zu können. Das wäre eine Sackgasse; dann könnte ich nur über ältere, weiße Männer schreiben und nicht über Papiertänzerinnen, Bienen und namenlose Kinder in einem winzigen Boot auf dem offenen Meer.
DIE DEUTSCHE BÜHNE Ihr Schreiben – auch in Kinderbüchern oder im Roman – zeichnet sich für mich durch sprachliche Präzision aus: Sehen Sie in dieser Präzision und (anfänglichen) Übersichtlichkeit eine Nähe zur Antike? Vielleicht auch andererseits in der gnadenlosen Klarheit im Aufzeigen von Ambivalenzen und menschlichen Abgründen?
Roland Schimmelpfennig Die griechischen Tragiker bespielen ja weitgehend eine leere Bühne. Das Wort definiert Zeiten und Orte. Ich war immer der Meinung, dass ein Text mit nichts, außer vielleicht einem Stuhl, inszeniert werden können müßte. Und das traf sich für mich in der glückhaften Begegnung mit Jürgen Gosch und Johannes Schütz, die im Grunde dasselbe suchten. Gosch sagte: „Alles, was im Text steht, kann man auch spielen.“ Wir brauchen nichts: Das Wort, der Text erschaff t alles – und dafür muss man schon präzise arbeiten.
„Laios“ und „Anthropolis“ vom 15. September bis 10. November 2023 hatten in der Regie von Karin Beier die fünf Teile der Antikenserie „Anthropolis“ Premiere am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Der Dramatiker Roland Schimmelpfennig schrieb dafür die Texte, teils in Übertragungen antiker Tragödien, teils mit ganz neuen Stücken. Der Monolog „Laios“ schildert die Vorgeschichte zum „König Ödipus“. Das Stück war für den Mülheimer Stückepreis nominiert und – in der Darstellung von Lina Beckmann – außerdem zum Berliner Theatertreffen und dem Heidelberger Stückemarkt eingeladen.
„Anthropolis“, die fünf Teile: I „Prolog / Dionysos“ von Euripides/Roland Schimmelpfennig, Premiere: 15.9.2023, II „Laios“ von Roland Schimmelpfennig, Premiere: 29.9.2023, III „Ödipus“ von Sophokles/Roland Schimmelpfennig, Premiere: 13.10.2023, IV „Iokaste“ von Roland Schimmelpfennig/Aischylos/Euripides, Premiere: 27.10.2023 V „Antigone“ von Sophokles/ Roland Schimmelpfennig, Premiere: 10.11.2023.
Dieser Artikel ist erschienen in Heft Nr. 4/2024.