Tänzerin Laura Martín Rey beugt sich rückwärts und streckt ihre Arme kunstvoll Richtung Himmel auf einer Bühne, die in Flammen getaucht ist.

Wenn Gedanken brennen

Ray Bradbury: Fahrenheit 451

Theater:Theater Bielefeld, Premiere:17.05.2025Regie:Michael Heicks

Einen Lehrstückklassiker als Musical auf die große Bühne spektakeln, natürlich mit großen Bildern in betörendem Lichtdesign, beeindruckenden Videozuspielungen, spartenübergreifender Besetzung und großer Begeisterung am Ende – das gelang Intendant Michael Heicks als Regisseur am Theater Bielefeld mit Ray Bradburys „Fahrenheit 451“.

Der Titel gibt die Temperatur an, bei der Papier zu brennen anfängt. Dafür sorgen Feuerleute, die Bücher in einer dystopischen Zukunft abfackeln. Es geht der beauftragenden Machtelite dabei weniger um das Medium Buch, auch nicht um die Kulturtechnik Lesen. Es geht ihr um mögliche Inhalte, die zu so individualistischem Unfug wie selbstständigem und vielleicht sogar kritischem Denken sowie Empathie anregen könnten.

Bradbury verwies mit seinem Roman  „Fahrenheit 451“ warnend auf die sowjetischen Schauprozesse der 1930er Jahre, die antikommunistische McCarthy-Hetze während der Buchveröffentlichung in den 1950er Jahren und natürlich die von den Nazis angezündeten Scheiterhaufen der Werke linker, kritischer, jüdischer Autoren. Daran erinnern in Bielefeld die Kostüme der Feuerleute, die ganz in SS-Schwarz daherkommen, mit Lederjacken aufmarschieren, am Arm eine rote Binde. Wenn sie nicht im Einsatz sind, sitzen sie zittrig aggressiv herum wie Junkies auf Drogenentzug.

Ein Bezug zur Jetztzeit ist das schon im Buch porträtierte Phänomen, dass Menschen freiwillig aufs Bücherlesen verzichten. Weil sie sich mit ihren eigenen Befindlichkeiten überfordert fühlen, Ambivalenzen kaum mehr aushalten und lieber nichts mehr denken. Nur in der totalen Geistlosigkeit leide man nicht mehr an den eigenen Gefühlen und könne endlich glücklich sein. Die innere Leere lässt sich mit totalem Amüsement betäuben. Für den Staat hat das den Vorteil, dass alle potenziell subversiven Möglichkeiten der Bürger ausgeschaltet sind. Diesen Zusammenhang erklärt Feuermann Beatty (Oliver Baierl) nachdrücklich in einem Monolog.

Zeitlos aktuell

Bradbury erfand für den Überwachungsstaat einen Maschinenhund, der in Bielefeld als Drohne auftaucht, und wandgroße Fernseher, damit alle Bürger 24 Stunden pro Tag mit Bildern, Nachrichten, Videos paralysiert werden können. Was heutzutage mit dem Ablenkungsfeuerwerk der digitalen Reizüberflutung per Bildschirm oder Handy-Display ganz ohne brutal autoritären Staat funktioniert.

Aber solche Verweise interessieren in Bielefeld nicht. Nur eine aktuelle Anspielung blitzt auf, als von den letzten Intellektuellen die Rede ist. Die leben in Wäldern und lernen Bücher auswendig, um als lebendige Bibliothek das Wissen der Welt und die geistigen Suchbewegungen nach Bedeutung zu bewahren. Darunter seien viele Harvard-Absolventen, heißt es. Was angesichts der US-amerikanischen Politik, allen nicht devoten Hochschulen den Geldhahn zuzudrehen, mit vielen Lachern goutiert wird. Ansonsten setzt Michael Heicks (Intendanz und Regie) in aller Allgemeingültigkeit auf die zeitlose Handlung.

Lyrik als Medizin

Hauptfigur Guy (Nikolaj Alexander Brucker) ist erst begeisterter Bücheraufspürer und -verbrenner. Dann trifft er die 16-jährige Clarisse (Lara Hofmann), die frech-fröhlich verträumt wie auch freiheitsverspielt strahlend daherkommt und immun ist gegen alle Narkotisierungsmaßnahmen des Konsums. Sie macht das so überzeugend, dass der Feuermann sich ein bisschen verliebt, wachgeküsst wirkt und plötzlich in Bücher guckt, die er zu Asche verwandeln sollte. Er entdeckt mittels Lyrik bisher unbekannte Empfindungen in sich. Und flieht zu den Literatur-Fans in den Wald, die allerdings wie Intellektuellen-Karikaturen kostümiert sind.

Als pure Lachnummer inszeniert ist die gleichgültig unmündige Freundinnen-Clique von Guys Gattin Mildred, stets manisch bestrebt: „Lass uns lachen und fröhlich sein“. Mildred (Elena Berthold) selbst verblödet auch problemlos allein vor ihren pausenlos bespielten Bildschirmen, hüpft und kreischt entsprechend infantilisiert über die Bühne. Unerreichbar hilflos. In einem beeindruckenden Setting: eine comichaft überkoloriert blinkende, retrofuturistische Großstadt (Bühne: Annette Breuer). In ihr kündigen feuerbrünstige Rauchschwaden und Düsenjägerlärm einen nahenden Krieg an. Ein ja auch heutiges Angstszenario. Hochgradig ästhetisiert flimmern zudem Werbeclips entflammter Bücher über ständig neue Räume eröffnende Stellwände.

Musikalisch vielseitig

Schnelle Szenenwechsel und die stereotypisierte Oberflächlichkeit der Figuren passen schon mal prima zum Musical-Genre, addiert werden Songs von Radiohead. So tritt laut eigener Website auch das Züricher Theater Rigiblick an die Öffentlichkeit. Ist der electro-frickelige, schleppend treibende Postgitarrenrock von der existenziellen Verlorenheit doch der ideale Soundtrack für den Stoff. In Bielefeld aber intonieren Hofmann und Brucker leider viele Songs in einer Musical-Diktion, die eher an polierten Stahl denn roh pulsierende Sehnsucht denken lässt. Die fünfköpfige Live-Band kommt durchaus rockwuchtig daher, bietet die detailverliebten Kompositionen aber in handlungsdienlich schlichten Verkürzungen dar.

Was an offener Interaktion möglich wäre, zeigt der Schlagzeuger, als er das Video von der Räumung einer privaten Büchersammlung mit Ansätzen eines Trommelsolos emotional aufreißt. Wobei Tänzerin Laura Martín Rey die Frau spielt, die sich nicht von ihren Büchern trennen will und daher mit ihnen verbrannt wird. Das aber eben nicht schauspielert, sondern mit einem leidvollen Bewegungsfluss artikuliert. Am Ende nimmt sich Christina Huckle mit kraftvoll-dunkler Stimme einiger Songs an und erweckt so auch ihre Gebrochenheit und lauernden Abgründe zum melancholischen Leben. Toll. Schließlich wird sie noch unterstützt vom One Voice Pop-Chor des Theaters. Großartig!

Die Inszenierung ist weniger ein Requiem für, mehr eine vitalisierende Ode an die Buchkultur. An Schriftsteller, die mit ihren Texten „an das Leben rühren“ und „die Flicken des Universums für uns zu einem Gewand zusammennähen“. Der Abend endet daher mit einer deutlichen Mahnung, sich rechtzeitig gegen alle Denk- und Erinnerungsverbote zu engagieren, der Selbstzensur schweigenden Mitläufertums Einhalt zu gebieten und die Isolation aufzubrechen in den mit Desinformationen programmierten Bewusstseinsblasen. Weil das nicht belehrend, sondern optisch mit eleganter Opulenz, großem Engagement und herrlicher Intensität serviert wird, ist der Erfolg garantiert. Standing Ovations.