Foto: Franz Biberkopf (Evgueniy Alexiev), hinter ihm Brit Dehler als Todesengel © Bettina Stöß
Text:Detlef Brandenburg, am 5. September 2022
Wenn man davon hört, dass das Theater Bielefeld ein Mehrsparten-Musiktheater-Projekt nach Alfred Döblins riesigem Roman-Panorama „Berlin Alexanderplatz“ auf die Schiene setzen will, kann einem ja erstmal angst und bange werden: Diesen extrem vielschichtigen, montageartigen, mit semantischem Material vom Alten Testament bis zur neusten zeitgenössischen Zeitungsmeldung angereicherten, in unterschiedlichste Textformate aufgefalteten Text auf einen Zweieinhalbstunden-Abend einzudampfen – das kann doch eigentlich nur schiefgehen, oder? Kann, ja – muss aber nicht. Gestern Abend war die Uraufführung, und das Theater Bielefeld konnte einen rauschenden Erfolg feiern, der keineswegs billig erkauft war. Und – auch das ist ja nicht durchweg die Regel im neuen Musiktheater: Eine wichtige Grundlage dafür hat die Librettistin Christiane Neudecker geschaffen.
Der Sog der Reduktion
Sie verfährt nach dem Motto: Wenn schon eindampfen, dann aber richtig! Das riesige Romanpersonal reduziert sie auf vier Hauptfiguren: den Underdog-Helden Franz Biberkopf, seinen mephistophelischen Gegenspieler Reinhold, seine geliebte Mieze und einen Sprechchor, der für die Stadt Berlin mit ihren Einwohnern spricht, singt und lautmalt. Daneben, nämlich etwas außerhalb des Musikdramas, steht als Sprechrolle der Erzähler, der aber fast schon in der Struktur des Romans selbst angelegt ist, weil dort das Leben des Franz Biberkopf ja tatsächlicher immer wieder kommentiert, in Prologen antizipiert und in Epilogen rekapituliert wird. Als Nebenrollen gibt es dann noch den Alten Mann, den Gangsterboss Pums und – hinzuerfunden, aber leider nicht tragfähig ausgeführt – die von Franz erschlagene Minna als stumme Rolle. Durch diese Reduktion schafft sich Neudecker, statt dem Romangeschehen atemlos hinterherzuhecheln, gleichsam einen Freiraum, den sie nutzt, um ihre Textflächen dramaturgisch effektvoll zu gestalten: um sie in oft eigenwilliger Versprosa lyrisch zu verdichten, sie in kreisenden Litaneien semantisch aufzuladen und manchmal auch parodistisch zuzuspitzen.
Dabei hat sie offenbar eng mit den beiden Komponisten-Brüdern Vivan und Ketan Bhatti – bekannt unter anderem durch ihre Bühnenmusiken für Nuran David Calis – zusammengearbeitet. Deren Soundtrack ist beherzt eklektizistisch, die Allusionen reichen von heutiger Pop- und Clubmusik über E-Musik von Kurt Weill oder Alban Berg bis hin zu Klezmer und Choral. Vor allem aber ist diese Musik dramaturgisch wirklich tragfähig, weil sie sich auf die Form- und Bedeutungs-Angebote von Neudeckers Text durchaus mit einer eigenen interpretatorischen Haltung einlässt, indem sie den Text melodramatisch auflädt, ihm eigene musikalische Zeit- und Ausdrucksdimensionen abgewinnt und ihn gelegentlich auch mal frech parodiert. Und genau so bieten Text und Musik den Sängern, Spielern und Tänzern des Bielefelder Theaters, vor allem aber dem Regisseur Wolfang Nägele und seinen Ko-Regisseuren Dariusch Yazdkhasti (der Bielefelder Schauspielchef) und Sommer Ulrickson (Choreografie), reichlich szenisches Material, mit dem sie arbeiten können.
Bilder, die sich einbrennen
Und das tun sie großartig. Timo Dentler und Okraina Peter haben ihnen dafür ein tolles Bühnenbild gebaut: keine konkreten Orte oder gar Berlin-Videos, sondern einen düsteren Raum, der durch gestaffelte Portale und die technische Ästhetik der permanent sich bewegenden Untermaschinerie mit ihren Hubpodien und Wagen unwirtlich definiert wird. Die Inszenierung konzentriert sich dabei auf traditionelle Theatermittel, auf Spiel, Tanz und Tableaus, und schafft dichte, sich einbrennende Bilder – mit einigen Einschränkungen. Dass der Erzähler als Alfred Döblin kenntlich gemacht wird, ist vielleicht allzu naheliegend. Dass die Inszenierung zudem Döblins „Brotberuf“ als Psychiater zum Anlass nimmt, um aus diesem Döblin-Erzähler einen Nervenarzt zu machen, der offenbar – ähnlich dem Doktor aus Büchners „Woyzeck“ – Biberkopfs Leben im Sinne medizinischer Experimente manipuliert, macht aus der urbanen Phantasmagorie des Romans die allzu persönliche Leidensgeschichte eines medizinisch Gequälten. Das schafft natürlich plausible szenische Aktionsmöglichkeiten. Es macht das Romanthema aber auch kleiner, persönlicher, als es in Döblins Roman über den Großstadt-Moloch Berlin eigentlich ist.
Der Marsch ins Dritte Reich
Und im zweiten Teil des Abends, ausgerechnet, wenn es um Reinholds Mord an Mieze und Biberkopfs tiefen Sturz in die Verzweiflung geht, bleibt der Inszenierung ein bisschen die Luft weg, da läuft sie streckenweise in bemühtem Aktionismus leer – um zum Schluss, ausgerechnet da, wo der Roman sich zu Franz Biberkopfs etwas seltsamer Auferstehung versteigt, mit einer überraschenden Pointe aufzuwarten: Nägele lässt das Geschehen viel stärker, als Döblin das in seinem 1929 erschienen Roman tun konnte, entschiedener aber auch, als Neudecker es im Libretto nahelegt, in den Nationalsozialismus münden. Das neue Leben, in das der neue „Franz Karl Biberkopf“ am Schluss marschiert, ist das Tausendjährige Reich, wo Braunhemden den Döblin-Erzähler drangsalieren und dessen Notizbuch-Seiten verbrennen.
Wie gesagt: Das ist toll gespielt, getanzt und auch wirklich gut gesungen! Thomas Wolff ist ein Erzähler und Nervenarzt, bei dem professorale Betulichkeit und inhumane Kaltherzigkeit gegenüber Franz eine unheimliche Liaison eingehen. Evgueniy Alexiev singt den Franz Biberkopf mit klangvoll-dunklem Bariton, manchmal mit etwas ungelenker Artikulation. Lorin Wey ist ein Reinhold mit charaktervoll hellem, expressiv geschärftem Tenor, Veronika Lee eine Mieze mit glockenreinem Koloratursopran, der Sprechchor der Stadt leistet in seinem vielschichtigen Skandieren, Flüstern, Singen, Deklamieren Erstaunliches. Und der Chor und vor allem das Orchester entfalten unter der musikalischen Leitung von Anne Hinrichsen ein faszinierendes Klang- und Geräuschkontinuum, das allerdings dynamisch auch manchmal etwas aus der Balance gerät, wenn es zu breit und zu laut wird.
Wo die Theaterwelt noch in Ordnung ist…
Das Publikum feierte die Uraufführung im vollbesetzten großen Haus begeistert – Zeugnis auch dafür, dass hier die Beziehung zwischen Theater und Publikum offenbar noch in Ordnung ist. Intendant Michael Heicks konnte bei der Begrüßung zu dieser ersten Saisonpremiere stolz verkünden, dass die Abonnentenzahl seit 2019 nicht nennenswert zurückgegangen ist. Über 4000 Dauerkartenbesitzer sind es – in Bielefeld, das gibt’s doch gar nicht! Und das, obwohl das Theater ein anspruchsvolles, mutiges Programm macht und sich keineswegs anbiedert. Aber es kommuniziert auf breiter Front in die Stadt und die Kundschaft hinein, nicht über irgendeine Agentur, sondern ganz authentisch, aus der Mitte des Theaters selbst heraus – und das zahlt sich offenbar aus.