Theater in Konkurrenz zum Bildschirm? Über die Nachhaltigkeit neuer Formate des digitalen Theaters
Es war ein unfreiwilliger Aufbruch im Frühjahr 2020. Die Theater als Begegnungsräume waren durch den Coronalockdown geschlossen, die Teams mitten im Proben- und Aufführungsbetrieb auseinandergerissen. Gerade noch wurde gemeinsam gearbeitet, gehadert, gedacht, gekämpft, geliebt und geschwitzt, nun nichts als die Tristesse des Homeoffice. Theater ohne Mitspieler? Ohne Nähe? Geht das? Will man das? – Auf eine kurze Schockstarre folgte erstaunlich schnell Aktivität. Ein neuer Raum wurde gesucht und gefunden, einer ohne Infektionsgefahr: das Internet. Kleinstprojekte schossen wie Magic Mushrooms aus dem virtuellen Boden, Theater eröffneten im Onlinerausch YouTube-Kanäle und boten Einblicke in den Alltag einer Kultur im Pausenmodus. Da gab es Tanzworkshops mit dem Ballettensemble und Bananenbrotbacken mit Ensemblelieblingen. Online-Videotagebücher sollten die räumliche Trennung zwischen Ensemble und Publikum überwinden. Sie alle hatten eines gemeinsam: den Hauch des Privaten, des Persönlichen.
Denn auch wenn das natürlich alles inszeniert oder zumindest in Szene gesetzt war: Die Darstellenden gaben Einblicke in ihren Alltag, ihre privaten Wohnungen und Sorgen. Es gibt eine charmante Folge im „Tagebuch eines geschlossenen Theaters“ des Münchner Residenztheaters, in der Liliane Amuat versucht, im Rahmen von „Resi ruft an“ einen Text von Ingeborg Bachmann an den Mann oder die Frau am anderen Ende der Leitung zu bringen. Man sieht die Schauspielerin in ihrer Wohnung sitzen, ihre kleinen Kinder wuseln um sie herum. Sie bekommt einen Tennisball an den Kopf und wird mit Labello beschmiert, während sie versucht, konzentriert weiterzulesen. Natürlich ist das inszeniert. Oder zumindest geschickt zusammengeschnitten. Aber es ist die Inszenierung eines Lockdown-Homeoffice-Homeschooling-Homekindergartening-Wahnsinns, wie ihn wohl alle Eltern in diesen Monaten durchlebt haben. Zu sehen, dass es anderen nicht anders geht, war wohltuend, Gemeinschaft stiftend in einer Zeit der Vereinzelung.
Und darum ging es wohl den meisten dieser Kleinstprojekte: Das Teilen eines nachgestellten Alltags sollte durch eine schwierige Zeit helfen. Das Theater als Tröster, die Darstellerin als Leidensgenossin. Es ging mitnichten darum, eine Rolle zu spielen, sondern vielmehr darum, sich selbst möglichst authentisch abzubilden, fast so, als wäre das ein zufällig eingefangener privater Moment. Die Inszenierung der eigenen Befindlichkeit. Was in dieser so speziellen Zeit nicht den Ruch des Negativen hatte, den dieses Wort gewöhnlich verströmt. Denn diese Befindlichkeit war auf einmal eine kollektive geworden, der Stillstand etwas Übergreifendes, Globales, wenn nicht gar Universelles. In diesen ersten Online-Theaterstückchen ging es nicht darum, sich mit Textvorlagen auseinanderzusetzen oder in fremde Rollen zu schlüpfen. Vielmehr wurde das gerade stattfindende (oder eben nicht stattfindende) Leben zum Thema: der Schauspieler als Darsteller seiner selbst, als Performer, der sich selbst in die Arena wirft. Künstler und Werk waren untrennbar miteinander verbunden.
Während die Theater zeitgleich in ihren Archiven kramten und längst aufgezeichnete Bühnenproduktionen auf ihren Homepages streamten, entstanden die ersten wirklich für den digitalen Raum konzipierten Projekte, die über den improvisierten Charakter der ersten YouTube-Filmchen hinauswiesen. Wenig überraschend waren die Münchner Kammerspiele, noch unter der Leitung von Matthias Lilienthal, sehr aktiv in diesem Bereich: Da wurden bereits bestehende Inszenierungen in Zoom-Konferenzen überführt, in denen das Ensemble sich im virtuellen Raum begegnete, während tatsächlich alle daheimblieben. Da entwickelte sich spontan eine wöchentliche Serie von und mit der Schauspielerin Gro Swantje Kohlhof: Sie improvisierte sich zunächst in ihrem Jugendzimmer in Hamburg durch den ersten „Harry Potter“-Band. Aus ihrer scherzhaften Ansage „Bis nächste Woche bei Band 2“ entstand die Idee, aus den „Hogwarts-Exkursionen“ eine Serie zu machen. Immer professioneller wurde es, Kollegen schalteten sich als Gäste dazu – und Woche für Woche kam ein Stück Normalität zurück, bis sich alle zur letzten Folge wieder im Münchner Schauspielhaus einfanden.
Es ist im Grunde kein Wunder, dass sich ausgerechnet die Kammerspiele so leichttaten, spontan auf die neue Situation zu reagieren. Was im Vorfeld teils heftig kritisiert worden war, gereichte dem Haus nun zum Vorteil. Das Wort „Performance“, das während der Intendanz Lilienthals zum Kampfbegriff gegen all das Neue geworden war, wurde unverhofft zum Gebot der Stunde. Wo die räumliche Distanz Proben und Theater im herkömmlichen Sinne unmöglich machte, waren nun andere Fähigkeiten gefragt: die Bereitschaft der Schauspielerinnen und Schauspieler, selbst Autorenschaft zu übernehmen; die Lust am Improvisieren und am Verlassen ausgetretener Pfade; die Offenheit, Experimente zu machen. Das alles war das Kammerspielensemble bereits aus analogen Zeiten gewohnt. Lilienthal hatte in der Nachkommenschaft anderer experimentierfreudiger Intendanten vor ihm einen Nährboden geschaffen für neue Formate, auf dem sich nun auch Digitales entwickeln konnte.
Corona machte sichtbar, wofür ein Haus stand. Das Digitale wurde gewissermaßen zum Spiegel des vorangegangenen Analogen. So inszenierte das Münchner Residenztheater auch im Zoom eher klassisch. Theatermonologe, für „echte“ Bühnenräume geschrieben, wurden von einem Schauspieler oder einer Schauspielerin in einem solchen gespielt. Statt vor einem Publikum eben vor einer Kamera. Eine Person in einem Raum, keine Interaktion mit anderen. So inszeniert, dass sich das Ganze ohne große Änderungen auch vor einem real anwesenden Publikum spielen ließe. Digitales Theater mit analogem Notausgang quasi. Ein Kompromiss, der die Möglichkeiten des Digitalen nicht wirklich ausschöpfte, einem nicht internetaffinen Publikum jedoch eine Brücke baute und aus der Notlösung einen Dauerbrenner werden ließ.
An vielen anderen Theatern dagegen waren plötzlich ein Tatendrang und eine Sehnsucht nach kreativen Lösungen zu spüren, wie man sie in Vor-Corona-Zeiten durchaus manchmal vermisst hatte. Unermüdlich wurden Wege gesucht, das Unmögliche möglich zu machen, also Theater trotz Kontaktverbot. Antje Thoms inszenierte Juli Zehs „Corpus delicti“ in einer Tiefgarage in Göttingen als Drive-in-Theater ohne Ansteckungsgefahr. Jan Philipp Gloger übersetzte „Macbeth“ in einen Verschwörer-Chat auf Telegram. Das Theater Augsburg versetzte via VR-Brille ganze Aufführungen in die Virtual Reality. Der Kreativität waren auf einmal keine organisatorischen oder strukturellen Grenzen mehr gesetzt. Schien es.
Die Krise als Chance, als Raum für digitale (und analoge) Utopien also? Als Jungbrunnen für das Theater und Start in eine komplett neue Zukunft? Mitnichten. Die Spielpläne der aktuellen Spielzeit sind gekennzeichnet von zweierlei: dem Nachholen des ewig Verschobenen und der Sehnsucht nach Analogem. Beides ist verständlich und legitim. Denn auch bei der Zuschauerin ist die Sehnsucht groß, für einen Theaterbesuch mal wieder das Sofa zu verlassen, anderen Menschen zu begegnen. Und dass die Theater ihre bereits produzierten, geplanten und finanzierten Produktionen nun endlich auch zeigen wollen, versteht sich von selbst. Es bleibt abzuwarten, ob diese Spielzeit inhaltlich und ästhetisch innovativ sein wird oder ob über ihr der Ruch des (zu) lange Abgehangenen schweben wird. Passen diese vor Corona erdachten Abende noch in die von der Viruslast niedergedrückte Gesellschaft? Und: Was bleibt vom Geist des Innovativen und Spontanen, wenn dann alle auf Halde produzierten Inszenierungen zur Premiere gekommen sein werden? Ist diese Retrospektive auf die vergangenen ausgefallenen Spielzeiten der erste Schritt zurück in den bequemen Trott einer vorpandemischen Gesellschaft? Es wäre durchaus lohnend, die digitale Coronazeit nicht komplett als erledigt abzuhaken. Es war nicht alles schlecht, was da im virtuellen Raum aufblühte. Einige Impulse könnten dazu beitragen, das Theater in eine kreative Zukunft zu tragen, Stoffe, aber auch Räume neu zu denken. Festzementierte Abläufe zu hinterfragen, spontaner zu agieren. Und die vorhandenen technischen Kompetenzen auch abzurufen.
Das soll nicht heißen, dass sich das Theater in Zukunft auf das öffentliche Backen von Bananenbrot beschränken soll. Auf gar keinen Fall. Auch ist es auf Dauer wohl ermüdend, wenn jede und jeder immer nur sich selbst „spielt“ und Authentizität vorgaukelt. Das Theater lebt vom Spiel mit Texten und Rollen, vom Schau-Spiel. Wenn die Amazon Studios nun Diversity-Richtlinien einführen, nach denen Schauspieler- und Figurenidentität in Geschlecht, Geschlechtsidentität, Nationalität, Ethnizität, sexueller Orientierung und Behinderung übereinstimmen müssen, ist das das Ende des Schauspiels. Wenn jede Verstellung, jedes In-eine-Rolle-Schlüpfen verboten oder verpönt ist, gibt es kein Theater mehr. Kein Spiel.
Hier könnten und sollten Formate wie das vom Schauspiel Köln ins Leben gerufene #Digital bewusst gegensteuern. Die originären Theaterkompetenzen mit den neuen digitalen verbinden. Nach neuen Ausdrucksformen suchen und mit Rollen(klischees) spielen. Das neue performative Selbstbewusstsein, das aus den Onlineformaten erwachsen ist, kann neue Darstellungsformen vorantreiben. Theater ist zum Glück kein weiterer Streamingdienst. Aber: Theater heute ist natürlich Theater in Konkurrenz zum Bildschirm. Ein Theater der Zukunft muss sich dem stellen, um lebendig zu bleiben. Es muss dem Publikum etwas bieten, das keine andere Kunstform vermag. Ein Gegengewicht bilden.