Vom Überfliegersiegerhaus in Hamburg über unerwartete Innovationen bis zu den bewegendsten Momenten – Chefredakteur Detlev Baur wertet die rund 500 Antworten der Autor:innenumfrage aus.
1: Gesamtleistung eines großen Hauses
Nennen Sie hier bitte ein Theater (Mehrspartenhaus oder größeres Einspartenhaus), das Sie mit einem künstlerisch ambitionierten Programm beeindruckt hat.
Noch nie hat ein Haus in unserer Umfrage für seine Gesamtleistung mehr Stimmen bekommen als in diesem Jahr. Das Deutsche Schauspielhaus Hamburg kommt für seine Gesamtleistung auf acht Stimmen. Hauptmotiv für diese Nennung ist das Großprojekt „Anthropolis“ als Serie von fünf Premieren im Herbst 2023. Die größte Aufmerksamkeit erhielt dabei Lina Beckmanns grandioses Solo in Teil II, „Laios“, doch weisen unsere Autor:innenauch auf das Gesamtwerk von Autor Roland Schimmelpfennig (siehe das Interview auf S. 42) und Regisseurin Karin Beier hin. Da stellt sich ein Déjà-vu zur Umfrage von 2011 ein, als Wolfgang Behrens über das von Karin Beier geleitete Schauspiel Köln feststellte, hier sei gelungen, „eine Strahlkraft in die Stadt und die Gesellschaft hinein zu entwickeln, die dem Theater fast wieder etwas von dem zurückgibt, das es verloren zu haben schien: Relevanz“. Das könnte von heute sein, bei Michael Laages klingt es nun so: „Karin Beier hat mit den fünf Antike-Neufassungen neue Standards für historisch grundierte Zeitgenossenschaft gesetzt; und auch darüber hinaus hat der Spielplan mit sehr starker Ensemblepräsenz nachhaltig wirksame Akzente für kluges, frisches, neues Theater gesetzt.“ Der grandiose Erfolg des Schauspielhauses, das in der aktuellen Umfrage über alle Kategorien hinweg sogar auf 19 positive Erwähnungen kommt, wiegt umso schwerer, da das Theater ein Einspartenhaus ist.
Dies gilt auch für die Oper Frankfurt, die mit ebenfalls starken vier Nennungen auf Platz zwei folgt. Das von Bernd Loebe geleitete Opernhaus ist seit 20 Jahren immer auf vorderen Plätzen zu finden. Diese jahrelange Kontinuität in der Arbeit beeindruckt – auch hier. Ebenfalls vier Nennungen entfallen auf das Staatstheater Stuttgart, davon zwei ausdrücklich auf das sich ergänzende Mehrspartenhaus und zwei auf das von Burkhard C. Kosminski geleitete Schauspiel.
2: Gesamtleistung eines kleineren Hauses
Nennen Sie hier bitte ein kleineres Theater (kleineres Stadttheater, Landesbühne, freie Szene, Off-Bühne oder Privattheater), das Sie trotz begrenzter Ressourcen mit einem künstlerisch ambitionierten Programm beeindruckt hat.
Das Theaterhaus Jena war mit der „Hundekot-Attacke“ zum Theatertreffen eingeladen und ist nun in unserer Umfrage das meistgenannte Theater in der Kategorie der kleineren Häuser. Drei Nennungen sind in dieser naturgemäß breit gefächerten Kategorie von 43 genannten Häusern oder Gruppen schon eine ganze Menge. Torben Ibs begründet sein Votum so: „Zum Ende der Schaffensphase der Leitung zeigt das Theaterhaus Jena nicht nur mit der prämierten ‚Hundekot-Attacke‘, wie relevantes Theater aussieht.“
3: Besondere künstlerische Leistung im Schauspiel
Nennen Sie hier bitte eine:n Künstler:in oder ein Team, der/die bzw. das mit Darstellung, Inszenierung oder innovativen Ideen die Sparte Schauspiel bereichert hat.
Die meistgelobte Inszenierung ist – wie beschrieben – Roland Schimmelpfennigs „Anthropolis“, insbesondere der zweite Teil „Laios“, in der Inszenierung von Karin Beier am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Zwei der drei Nennungen beziehen sich dabei auf Lina Beckmanns vielstimmiges Solospiel. Martin Krumbholz kommentiert kurz und bündig: „Eine erstaunliche Performance eines großartigen Textes.“ Und Anna Opel analysiert Beckmanns Spiel so: „Ungeheuer physisches Spiel, auch große Variabilität mit Maske und Stimme, sodass ein interessanter Eindruck entstand, in dem die Kategorie Geschlecht kaum noch eine Rolle spielte. Habe ich so noch nicht gesehen.“ Ruth Bender lobt das Gesamtprojekt: „Wie Regisseurin und Autor den Wirklichkeitsgehalt aus den Fugen im Mythos kratzen, die Geschichte ins gegenwärtig Wiedererkennbare dehnen, das steht – als Einzelerlebnis ebenso wie als Gesamtheit – für die nimmermüde Kraft und Gültigkeit des Theaters.“ Die drei Nennungen für das Großprojekt des größten deutschen Schauspielhauses werden durch die acht Nennungen des Theaters noch deutlich aufgewertet.
In der Kategorie Schauspiel folgen als zweite Gewinner drei Produktionen mit zwei Nennungen: Rieke Süßkows Schwab-Inszenierung „Übergewicht, unwichtig: Unform“ am Staatstheater Nürnberg. Florian Welle ist angetan: „Abscheulich großartig dieser Hanswurst-Blick auf Schwab, dessen Theater eine Frischzellenkur ge- braucht zu haben scheint, um wieder gespielt zu werden.“ Und nicht nur Christina Kaindl-Hönig lobt Kornél Mundruczós „Parallax“ bei den Wiener Festwochen: „Eine ebenso kluge wie sinnlich-theatralisch beeindruckende Inszenierung von Kornél Mundruczó und seinem freien ungarischen Proton Theatre über transgenerationale, durch die Erfahrung des Holocaust ausgelöste Traumata und den damit verbundenen Identitätsverlust dreier Generationen in Ungarn, vermittelt aus drei unterschiedlichen Perspektiven – großes Theater.“ Zwei Nennungen erhält auch die schon zuvor erwähnte „Hundekot-Attacke“ am Theaterhaus Jena in der Regie von Walter Bart und mit Linde Dercon als herausragender Darstellerin. Über Amir Reza Koohestanis „Dantons Tod Reloaded“ am Hamburger Thalia Theater zitierten wir bereits auf S. 41 das Lob der gelungenen Überschreibung.
4: Besondere künstlerische Leistung im Musiktheater
Nennen Sie hier bitte eine:n Künstler:in oder ein Team, der/die bzw. das mit Darstellung, Inszenierung oder innovativen Ideen die Sparte Musiktheater bereichert hat.
Im Musiktheater äußern sich manche Autor:innen verhalten über die Spielzeit. Besonders auf diese Sparte gemünzt antwortet Christoph Schulte im Walde auf Frage 10: „Im Musiktheater gab es leider kaum Erregungsmomente.“ 41 Produktionen haben es unseren Autor:innen aber doch auf die eine oder andere Art angetan. Mit zwei Nennungen sticht von der Oper Wuppertal der Doppelabend „Erwartung/Der Wald“ heraus. Während Martin Krumbholz die Regie von Manuel Schmitt und die Sängerin Hanna Larissa Naujoks als „berührende Protagonistin“ hervorhebt, hat Clara Hütterott besonders der Chor positiv überrascht. Sie hat hier „zum ersten Mal einen Chor zwar mit einfachen, aber sehr klug gesetzten und gut umgesetzten Bewegungen gesehen“.
Da die Frage von Original und Neuschreibung unsere Autor:innen besonders beschäftigt, hier noch Nennungen zu diesem Themenbereich: Andreas Berger lobt „La Bohème“ am Theater für Niedersachsen in Juana Inés Cano Restrepos Inszenierung, „die das viel interpretierte Stück konsequent aus Sicht einer Sterbenden erzählt (…). Ungewöhnliche Bilder, eine Krankengeschichte wie von heute, feinfühlig erzählt“. Joachim Lange entdeckt an der Oper Frankfurt in Matthew Wilds „Tannhäuser“-Inszenierung eine „stimmige Neudeutung“ auf dem „hausüblich hohen musikalischen Niveau“. Und Melanie Suchy begeistert am selben Haus Nadja Loschkys Regie von „Giulio Cesare in Egitto“: „Ohne banale Aktualisierung, ohne aufgeplusterte Perücken, mit feinem Sinn auch für szenischen Humor.“
5: Besondere künstlerische Leistung im Ballett/Tanz
Nennen Sie hier bitte eine:n Künstler:in oder ein Team, der/die bzw. das mit Darstellung, Choreografe oder innovativen Ideen die Sparte Ballett/Tanz bereichert hat.
Die Nennungen im Tanz sind breit gestreut. Dabei fällt auf, dass immer mehr Autor:inen hier etwas beitragen, der Tanz im Theater inzwischen insgesamt höheren Stellenwert genießt. Drei Häuser stechen in der Vielfalt der 30 genannten unterschiedlichen Produktionen heraus: An den Bühnen Bern macht Jasmin Goll eine „immer sehr starke Tanzcompagnie“ aus. An John Neumeiers Hamburg Ballett führt in den letzten Jahren (oder Jahrzehnten) eh kein Weg vorbei: diesmal unter anderem mit Neumeiers Neueinstudierung seines Balletts „Odyssee“. Vesna Mlakar kommentiert: „Bei seiner Rückkehr auf die Bühne der Hamburgischen Staatsoper aus Anlass von Neumeiers 85. Geburtstag bietet es – ohne irgendeine Patina angesetzt zu haben oder bloß auf archaisches Pathos zu vertrauen – wirklich alles, was ein Meisterstück angesichts zahlreicher Herausforderungen für Solointerpreten und Ensemble ausmacht.“ Hartmut Regitz macht angesichts des Abschieds dieses übermächtigen Choreografen und Compagnieleiters Mut für die Nachfolge, wenn er über Demis Volpis Düsseldorfer Abschiedschoreografie „Surrogate Cities“ schreibt: „Der angehende Ballettintendant des Hamburg Balletts zeigt in Düsseldorf, was er kann: nämlich ein Ensemble bewegen, bildkräftige Geschichten erfinden und Gefühle auf ganz unterschiedliche Weise choreografisch erleben lassen. Und Mut hat er obendrein: die Kraftanstrengung hätte auch im Kollaps enden können.“
Die dritte Compagnie mit zwei Nennungen ist die Gauthier Dance Company am Theaterhaus Stuttgart: Diesmal hat es Petra Mostbacher-Dix besonders Hofesh Shechters dreiteiliger Abend „Anthology“ angetan: „Der israelische Choreograf, seit 2021 ‚Artist in Residence‘, hat einen Abend wie einen einzigen Sog kreiert, der besser die Conditio humana nicht fassen könnte. Wie sagte noch Pina Bausch? ‚Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren!‘“ Manfred Jahnke ergänzt zu Gauthier Dance: „Dazu kommt noch das Engagement für junge Menschen in Schulen und Workshops“, womit wir bei der nächsten Kategorie unserer Umfrage wären.
6: Besondere künstlerische Leistung im Kinder- und Jugendtheater oder Figurentheater
Nennen Sie hier bitte eine:n Künstler:in oder ein Team, der/die bzw. das mit Darstellung, Inszenierung oder innovativen Ideen das Kinder- und Jugendtheater oder das Figurentheater bereichert hat.
Mit jeweils zwei Nennungen stechen aus einer großen Fülle an Nennungen zwei Produktionen, die Lust auf Figuren- und Menschentheater machen, heraus: Armela Madreiters Stück „südpol.windstill“ wurde am Jungen Theater Heidelberg inszeniert. Anne Fritsch schreibt dazu: „Armela Madreiter hat ein Kinderstück geschrieben, in dem alles stimmt. Ein Stück voller Fantasie, voller Ideen und Hoffnung. (…) Die Situation ist ziemlich trist, denn Idas Mutter leidet unter Depressionen und Alkoholsucht, an schlechten Tagen, von denen es viele gibt, ist sie quasi nicht vorhanden. (…) Dieser Text catcht sein Publikum und entlässt es mit viel Gesprächsstoff.“
Bei der zweiten Inszenierung handelt es sich um einen Klassiker, der durch die Regie eine besondere Note erhält. Joanna Praml gelingt es zum wiederholten Male, einen Text von Shakespeare und junge Menschen zu großem Theater zu verbinden: mit „Romeo und Julia“ am Staatstheater Nürnberg. Florian Welle ist begeistert: „Energiegeladener und lebendiger konnte man das Stück kaum je im professionellen Theater sehen, die verblüffend selbstbewusst agierenden Jugendlichen machten es sich komplett zu eigen, indem sie vor allem gefragt haben, warum eigentlich die Feindschaft zwischen den Capulets und Montagues nicht überwunden werden kann. Eine kluge Auseinandersetzung vor dem Hintergrund der Frage nach dem Konflikt der Generationen und einer immer sich weiter spaltenden Gesellschaft. Fast alle Darsteller:innen wuchsen mehrsprachig auf und brachten darüber hinaus ihre Talente (Singen, Tanzen, Musizieren) ein.“
7: Spartenübergreifende Formate
Nennen Sie hier bitte eine:n Künstler:in oder ein Team, der/die bzw. das durch eine spartenübergreifende Inszenierung das Theater bereichert hat. Das kann ein Projekt sein, das die traditionellen Mittel der Sparte überschritten hat, es kann eine Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Abteilungen eines Hauses oder mehreren Theatern sein, es kann analoge oder digitale Elemente umfassen.
Auch im zweiten Jahr zeigen die Antworten auf die Frage nach den spartenübergreifenden Favoriten eine große künstlerische Kraft, die grenzüberschreitenden Formaten innewohnt. Drei Produktionen ragen dabei durch zweifache Nennungen heraus. Am Staatstheater Braunschweig überzeugt „Körperfestung/Herzog Blaubarts Burg“ nach Béla Bartóks Oper von Guy Weizman (Regie), Roni Haver (Choreografie), Ascon de Nijs (Bühne) und MAISON the FAUX (Kostüme). Hartmut Regitz schreibt dazu: „Mit Hilfe des Staatsorchesters, dem kompletten Tanztheater und den beiden Gesangssolisten holen sie das Werk auf ihre Weise aus einer märchenhaften Vergangenheit in unsere Gegenwart. Und das heißt nichts anderes als: ein in vielerlei Weise bewegtes Musiktheater, an dem die Gender- und #MeToo-Debatte nicht spurlos vorübergegangen ist.“
Am Schauspielhaus Bochum gefällt Imre & Marne van Opstals „Voodoo Waltz“ als „gelungene Kombination aus präzise-feinem Tanz und Schauspiel, bis es auch mal schmerzt“, wie Sarah Heppekausen zusammenfasst. Und schließlich überzeugt die SIGNA-Performance „Das 13. Jahr“ am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Jörn Florian Fuchs kommentiert trocken-anerkennend: „Immersive Arbeiten gelingen ja selten und sind meistens ziemlich peinlich. SIGNA indes ist wieder ein Treffer gelungen.“ Für die Produktion kommen noch Nennungen für Bühne/Kostüm und unter Schauspiel dazu. Michael Laages schreibt: Das „dänisch-österreichische Team um SIGNA und Arthur Köstler hat wieder eine Welt erfunden und uns, das Publikum, hineingesetzt in diesen Erfahrungsraum, diesmal in Begleitung von Mitgliedern des Hamburger Ensembles – Methode wie Ergebnis sind in den SIGNA-Produktionen stets ebenso verunsichernd wie einzigartig.“
8: Bühne/Kostüme/Video- und Sounddesign
Nennen Sie hier bitte eine:n Künstler:in oder ein Team, der/die bzw. das Sie in den Bereichen Bühnen- oder Kostümbild, Video- oder Sounddesign besonders beeindruckt hat. Hier sind keine Streams, sondern Liveproduktionen zu nennen!
Bühnenbildner Andreas Auerbach ist hier zweimal genannt, mit zwei unterschiedlichen Produktionen. Zweifach genannt sind auch Mirjam Stängls Bühne und Sabrina Bosshards Kostüme in „Übergewicht, unwichtig: Unform“ am Staatstheater Nürnberg, die Inszenierung war bereits in der Kategorie Schauspiel mit zwei Nennungen weit vorne zu finden. Sebastian Hannaks Raumbühne, diesmal „Antipolis“ am Staatstheater Kassel, ist zum wiederholten Male im Rennen, auch mit zwei Nennungen. Detlef Brandenburg ordnet das so ein: „Das war eben nicht die Wiederholung des immer Gleichen, sondern eine stetige, konsequente Weiter- entwicklung des Konzepts ,Raumbühne‘, das nun in Kassel seine bislang wohl doch größte Dimension und eindrucksvollste Konsequenz erreichte.“ Und schließlich werden das Medienkunstteam beziehungsweise die Bühne samt VR-Design in „Goldie“ am Schauspiel Leipzig doppelt hervorgehoben. Die Produktion spielte bereits in unserem Schwerpunkt zu KI im Theater (DdB 1/24) eine große Rolle. Thilo Sauer lobt, daß Bühne und digitale Erweiterung „die Bruchlinien zwischen virtueller und realer Welt“ zeigen.
9: Innovatives Digitalexperiment
Nennen Sie hier bitte ein Theater, eine freie Gruppe oder eine Produktion, die mit neuen Formaten des Digitaltheaters experimentiert hat. Das kann die Nutzung von VR oder KI auf der Bühne sein und/oder immersive, digital gestützte Formate.
Hier äußern sich nur einige Autorinnen und Autoren. Bettina Schulte konstatiert: „Ich kenne kein innovatives Digitalformat. Die Pandemie hat nachdrücklich gezeigt, dass das Theater ein analoges Format ist.“ Die Nennungen zu dieser Frage zeigen aber doch, dass digitale Mittel das analoge Theater bereichern können. Jens Fischer ist beeindruckt vom „ständigen Szenen- und Perspektivwechsel von Livetheater auf der Bühne und per VR-Brille vermittelten 3-D-Filmen“ in „Mädchenmörder :: Brunke“ am Staatstheater Braunschweig.
10: Größter Erregungsmoment der Spielzeit
Nennen Sie hier bitte Ihren persönlichen Erregungsmoment der vergangenen Spielzeit, der sowohl negativ als auch positiv sein kann.
Der Ärger oder in einigen Fällen auch die besondere Freude unserer freien Kritiker:innen sind naturgemäß persönlich geprägt und sehr vom Wohnort abhängig. So sind für die Kölner Redaktion unter den Sanierungssorgen um Chemnitz, Stuttgart und Köln letztere am deutlichsten nachvollziehbar. In Köln spielte sich medial zuletzt das Drama um die vermeintliche Übergriffigkeit des Generalmusikdirektors François-Xavier Roth ab, die beispielsweise von Jesper Klein als bezeichnend angesehen wird: „Immer wieder von Männern ausgehender Machtmissbrauch in Führungspositionen, beispielhaft die Misere des Hessischen Staatstheater Wiesbaden und jüngst die Causa François-Xavier Roth in Köln.“
Während früher die ignorante Kulturpolitik der größte Aufreger in unserer Abschlussfrage war, sind es nun gesellschaftspolitische Themen. Die Bedrohung von Demokratie und Kunst durch rechts oder auch Überreaktionen gegen Bedrohungen von Kunst und Staat, die die freie Gesellschaft und ihre Kulturbetriebe von innen aushöhlen. Aber auch Machtmissbrauch in den Institutionen. Ob das heißt, dass die Kulturpolitik besser geworden ist, wage ich zu bezweifeln, die Bedrohungen fürs Theater scheinen jedoch deutlich größer geworden zu sein. Ruth Bender bleibt insgesamt zuversichtlich. Sie erkennt „das Bemühen von rechts, Kunst als Feindbild zu etablieren“, und erkennt „die Kraft des Theaters, dagegenzuhalten. (…) Und die Kraft und Energie der Schauspieler:innen, ohne die das niemals wirksam würde“.
Uneinig sind sich die drei Autor:innen, die die Berufung von Marco Goecke (mehr zu seiner „Hundekot-Attacke“ unter anderem in der letztjährigen Autor:innenumfrage) zum neuen Basler Ballettdirektor besonders beschäftigt. Tobias Hell und Jens Fischer sprechen von einer „verfrühten zweiten Chance“ beziehungsweise einer „Belohnung“, während Bettina Schulte darin „einen Sieg der Kunst über die Skandalisierung“ sieht.
Der Tod von René Pollesch ist mit sechs Nennungen eindeutig der wichtigste Trauerfall der vergangenen Saison. Da wird nicht nur der Intendant der Volksbühne vermisst, deren Zukunft unklarer denn je ist, sondern einer der wichtigsten Theatermacher der letzten 25 Jahre. Christina Kaindl-Hönig aus Wien nennt „Trauer und Bestürzung über den viel zu frühen Tod des stilprägenden Theaterkünstlers René Pollesch“.
1-10: Kategorieübergreifende Gesamtleistung und führende Theaterstädte
Aus der Summe aller Kategorien ergibt die Auswertung der Städte, dass die Hansestadt Hamburg mit 40 Nennungen weit vor anderen Städten liegt. Das geht – im Wesentlichen – auf das Schauspielhaus zurück. Mit deutlichem Abstand nehmen die Hauptstadt Berlin mit 29 Nennungen und München mit 17 die nächsten Plätze ein.
Unter den Theatern folgt auf die 19 Erwähnungen des Deutschen Schauspielhauses das Staatstheater Nürnberg mit 13. Das Theater Heidelberg verzeichnet zwar nur eine Nennung in der Kategorie 2, insgesamt jedoch erstaunliche acht Erwähnungen, die sich auf zahlreiche Kategorien verteilen. Petra Mostbacher-Dix zählt denn auch „einige Highlights“ dieses Stadttheaters auf.