Seelennahrung

Unterhaltungstheater ist präsent wie nie auf den Spielplänen. Dabei sind Operette, Musical und Komödie mehr als Ablenkung vom Alltag und seichte Kost, wie der Publikumszuspruch beweist. Unser Themenschwerpunkt geht dem nach.

aus Heft 03/2024 zum Schwerpunkt »Unverzichtbar: Unterhaltungstheater«

Unterhaltungstheater nimmt einen wichtigen Platz im Spielplan des Eduard-von-Winterstein-Theaters in Annaberg-Buchholz ein. Das seit zwei Spielzeiten von Moritz Gogg geleitete Haus heimst immer wieder Preise für Operettenraritäten ein. Ein Gespräch über Spielplandramaturgie, ernste Brüche in komischen Stücken und Langlaufloipen im Erzgebirge

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Das Eduard-von-Winterstein-Theater besteht als Zweispartenhaus mit Schauspiel, Musiktheater, Konzertbetrieb. Wie würden Sie die Einstellung der Stadt gegenüber dem Theater beschreiben? Welches Publikum kommt zu Ihnen?

Moritz Gogg: Die Erzgebirgische Theater- und Orchester GmbH mit dem Eduard-von-Winterstein-Theater und der Erzgebirgischen Philharmonie Aue garantiert hier seit Jahrzehnten die kulturelle Grundversorgung. Die Bevölkerung ist gewohnt, zu kommen, und identifiziert sich sehr mit ihrem Theater. Im Sommer bespielen wir auch die Felsenbühne Greifensteine. Im Theater haben wir nur 303 Plätze, aber die Felsenbühne bietet 1200 Sitzplätze – im Sommer lieben die Menschen das Theater im Freien. Und es kommen zunehmend junge Leute. Das ist wichtig, und wir versuchen, ihnen im Spielplan etwas zu bieten. Der demografische Wandel hier ist doch spürbar: Junge Leute verlassen teilweise die Region in der Ausbildung, aber wir wollen Anreize setzen, damit sie auch zurückkommen. Dabei sehen wir zwei Aufgaben: unterhalten und zum Nachdenken anregen, menschliche Werte verankern. Unser Spielzeitmotto ist: „Werden wir mitfühlend ge­wesen sein?“

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Auf Ihrer Homepage prangt das Motto „WEHRET DEN ANFÄNGEN!“ mit einem flammenden Plädoyer für ein demokratisches, tolerantes Land. Ist in diesen Zeiten von Krieg in Europa und zunehmenden antidemokratischen Kräften das Unterhaltungstheater besonders wichtig?

Moritz Gogg: Wichtig ist, dass wir überparteilich sind und alle zum Nach- und Umdenken anregen wollen. Wir versuchen das aber mit Unterhaltung zu verknüpfen – die ist uns doch Seelennahrung, gerade in schweren Zeiten! Und wir stellen einen klaren Trend zu unterhaltenden Stoffen fest. Die werden sehr gut gebucht. Aber mir ist wichtig, dort einen doppelten Boden einzubauen: zum Beispiel bei der Ausgrabung „Der reichste Mann der Welt“ von Ralph Benatzky, für den wir 2021/22 den Spielzeit-Operetten-Frosch des Bayerischen Rundfunks gewonnen haben, um den auch die Wiener Volksoper, die Oper Graz und die Staatsoperette Dresden kandidiert hatten. Der Librettist Hans Müller war ein Jude, deshalb verschwand das Werk unter den Nazis. Bei uns hat Christian von Götz in seiner Inszenierung einen Bruch eingebaut: Das Bühnenbild wandelt sich durch einen Lichtwechsel, und man sieht, wie jüdische Künstler emigrieren mussten. Man hatte Assoziationen mit einem Krematorium – das erinnert an die Geschichte des Stückes. Von Götz hat jetzt erneut bei uns eine Operette inszeniert, den „Fürst von Pappenheim“, und der Bruch besteht diesmal in Parallelen der Themen von 1923 und 2023: Diversität, rechte Tendenzen, Nationalsozialismus … und wieder haben wir einen Operetten-Frosch gewonnen.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Sie versuchen den ernsthaften Bruch also bewusst in unterhaltende Stücke einzubauen?

Moritz Gogg: Nicht mit der Brechstange und nicht bei der „Fledermaus“, aber ja. Mich interessieren vor allem Stücke, die wegen politischer Verhältnisse von den Bühnen verschwunden sind. Nicht die, die immer gut gelaufen sind. Mich beschäftigt die Frage, was Deutschland kulturell heute wäre, hätte es nicht dieses unsägliche Dritte Reich gegeben. Was wäre der Film? Wo stände die Operette? Die besten Gesangslehrer sind nach Amerika ausgewandert!

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Sie haben ja im Spielplan eine deutliche Polarität: einerseits Stücke, die quasi jeder kennt, und andererseits völlig unbekannte Ausgrabungen…

Moritz Gogg: Die Leute wollen ihre Lieblingstitel sehen, und andererseits ködere ich sie damit für unbekanntere Werke! (lacht) Wir hatten in den letzten Monaten einen enormen Anstieg, Corona ist länger her, und trotz Inflation kommen die Leute wieder. In unserer Region ist Mundpropaganda sehr wichtig, wenn sich also herumspricht, dass etwas unterhaltsam ist oder besonders. Und wir versuchen, Talente zu entdecken, die sehr gut spielen können. Das ist gerade fürs Unterhaltungstheater sehr wichtig!

DIE DEUTSCHE BÜHNE: In Ihrem Spielplan gibt es unter dem Motto „Erzgebirgische Dramaturgie” ein präzises Labelsystem. Kann man „Unterhaltung“ immer von „Familientheater“ abgrenzen? Ist nicht die „Dreigroschenoper“ auch Unterhaltungstheater und „Der Fürst von Pappenheim“, eine Operette, auch „Rarität“?

Moritz Gogg: Das ist Erwartungsmanagement, damit das Publikum im Vorfeld weiß, worauf es sich einlässt. Aber auch eine Frage der Inszenierung: Heute wird immer gefragt, wohin soll eine Inszenierung gehen – oder wohin zurück … Wenn das Publikum weiß, was es erwartet, nimmt es das besser an, als wenn es denkt, eine normale konservative „Zauberflöte“ zu sehen, und dann eine hermeneutische Dekonstruktion erlebt. Man muss das ankündigen!

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Es ist also nicht eine Frage der Werktreue, sondern der Vorbereitung?

Moritz Gogg: Die große Frage … Immer soll es zur sogenannten Werktreue zurück. Gerade unsere Inszenierung von „Der reichste Mann der Welt“ hat das bewiesen! Von Götz hat durch seine Lesart das Werk erst brisant und interessant gemacht. Wenn man das eins zu eins auf die Bühne gestellt hätte wie einen Hans-Moser-Film, wäre das uninteressant geworden. Also wenn Sie mich fragen, Werktreue oder nicht, sage ich: gut gemacht oder nicht gut gemacht, sinnig und mit doppeltem Boden oder nicht.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Ihr Haus hat für „Der reichste Mann der Welt” von Ralph Benatzky 2021/22 denn Operetten-Frosch bekommen. „Operettenmut in besonders schwierigen Theaterzeiten!“, schrieb BR-Klassik. Wie wichtig sind solche Auszeichnungen?

Moritz Gogg: Für die Argumentation der Politik gegenüber ist überregionale Beachtung sehr wichtig! Ich predige es allen Politikern: Die ETO-GmbH ist eine Notwendigkeit für diese Region. Wenn es dieses Haus eines Tages nicht mehr gibt, dann verödet diese Gegend total, und dann sind allen gefährlichen Tendenzen Tür und Tor geöffnet. Wir vermitteln Grundwerte. Außerdem motivieren Preise ja auch das ganze Team.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Das zeigt, wie wichtig die kulturelle Grundversorgung durch so ein kleines Stadttheater ist, mehr noch vielleicht
als durch große Häuser in Metropolen.

Moritz Gogg: Da bin ich völlig Ihrer Meinung. Das Wichtige an dieser Grundversorgung ist allerdings, dass man eine breite Palette an Ästhetiken zeigen muss, um möglichst viele Leute mitzunehmen.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Viele Stücke in Ihrem Spielplan haben einen Unterhaltungsaspekt. Ist das nötig heutzutage?

Moritz Gogg: Das Erzgebirge ist nicht die einkommensstärkste Region. Die Erfahrung hier zeigt, dass die Menschen gerade jetzt viel Unterhaltung brauchen, quasi als seelische Nahrung, um gesund zu bleiben. Es geht ja nie um platte Unterhaltung. Wobei ich jetzt die ein oder andere Boulevardkomödie im Programm habe, die ich ursprünglich nicht gemacht hätte.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Wenn Sie so über das Erzgebirge reden, hat man das Gefühl, Sie sind schon 20 Jahre dort. Wie haben Sie sich in die Gegend hineingefühlt?

Moritz Gogg: Es lebt sich hier sehr gut, die Natur ist wunderschön, und es ist toll, nach dem Büro auf die Langlauf­loipe zu gehen! Der Dialekt könnte auch irgendwo in der Ost-Steiermark sein. Die Natur, das Essen – es ist für einen Österreicher nicht so schwer, sich hier hineinzufühlen. Karlsbad ist nicht weit weg, Prag, Dresden, Leipzig. Eigentlich war es mal eine sehr reiche Gegend hier. Aber wo gibt’s eine Stadt mit 20 000 Einwohnern, die so ein Theater hat? Es gibt so viele wertvolle Menschen hier, und der Träger steht noch sehr hinter der Institution. Das können sich manche Theater nur wünschen!

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Noch mal zum Stichwort „Unterhaltungstheater“: Wo fängt der Begriff für Sie an?

Moritz Gogg: Die Abgrenzung von U und E ist wahnsinnig schwierig und im Grunde unsinnig. Wir waren dankbar, als wir die Uraufführung der Operette „Hopfen und Malz“ von Daniel Behle bekommen haben. Die gab nicht nur riesige Aufmerksamkeit, sondern ist vor allem publikumsorientiert komponiert. Ich möchte Werke fördern, die das Pu­blikum nicht aus den Augen lassen, sondern für alle nachvollziehbar sind.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Sie haben viele Jahre als Sänger gearbeitet, waren über zehn Jahre an der Staatsoper Hamburg im Ensemble, davor Korrepetitor. Sie kennen den Betrieb aus allen Perspektiven. Leitet man ein Theater deshalb anders?

Moritz Gogg: Ganz sicher, davon bin ich überzeugt! Als ausübender Künstler hatte man andere Wünsche im Arbeitsalltag. Ich versuche heute Verständnis für alle Mitarbeitenden aufzubringen, je nach Abteilung Bedürfnisse so gut es geht zu erfüllen. Motivation steigert die Leistung! Die Zeiten von dominanten Theaterleitern und Pseudodiktaturen sind hoffentlich vorbei. Ich habe es als Sänger erlebt: Wenn ich Angst hatte, habe ich
sofort geschmissen.

Das Interview ist erschienen in Heft 3/2024 der DEUTSCHEN BÜHNE.