Laurent Hilaire

Laurent Hilaire wird Chef des Bayerischen Staatsballetts

Eigentlich sollte die nationale Herkunft eines Künstlers kein Thema sein – insbesondere was die in ihrer „Buntheit“ (auch im Hinblick auf eine zukünftige Weltgemeinschaft!) geradezu vorbildlichen Ballettensembles hierzulande betrifft. Im Fall des unlängst aus dem Amt des Direktors des Bayerischen Staatsballetts geschiedenen Russen Igor Zelensky – vorgeblich aus „familiären Gründen“ – wurde die nationale Herkunft letztlich doch zum Thema, zum Hauptthema sogar wegen des russischen Überfalls auf die Ukraine und mutmaßlicher Verstrickungen Zelenskys ins „System Putin“. Sein nun äußerst rasch vom – gleichfalls noch neuen – bayerischen Staatsminister für Wissenschaft und Kunst Markus Blume präsentierter Nachfolger Laurent Hilaire ist Franzose. Ein per se interessantes Novum in der langen Geschichte des Balletts in München.

Blitzschnell eine exzellente Lösung zu finden, war offenbar das Ziel, nachdem Zelensky am 4. April dieses Jahres – mitten in seiner sechsten erfolgreichen Spielzeit – zurücktreten musste. 70 Tänzerinnen und Tänzer standen plötzlich ohne künstlerische Leitung da. Einen geeigneten Nachfolger aus dem Hut zu zaubern, mag kein leichtes Unterfangen gewesen sein. Dass sich Ministerium und Opernintendanz selten zügig einigen konnten, darf Begeisterung wecken. Mit Schicksalsfäden wurde hier fix und intern clever hantiert, indem man auf den naheliegenden Wunschkandidaten wahrscheinlich direkt zuging.

Die Pressekonferenz

„An einem Haus wie der Bayerischen Staatsoper können solche Positionen nicht lange unbesetzt sein“, konstatierte anlässlich der Jahrespressekonferenz der Bayerischen Staatsoper am 5. Mai Kunstminister Blume. In Anwesenheit von Staatsintendant Serge Dorny und Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski wurde Laurent Hilaire als neuer Chef der Münchner Kompanie präsentiert. Das interne Aufatmen aller Beteiligten war regelrecht zu spüren. Hilaire wiederum wusste sich sofort sympathisch-kompetent als Verfechter eines Saisonprogramms vorzustellen, das zwar nicht von ihm, sondern noch von Zelensky stammt, welches er aber ab sofort mit vollem persönlichen Engagement übernehmen will. Augenzwinkernd fügte der drahtige 59-Jährige noch hinzu: „Was ich von Rudolf Nurejew gelernt habe ist: Es geht immer noch besser!“

Wer ist Laurent Hilaire?

Wer ist der in Mitteleuropa nicht allzu bekannte Laurent Hilaire? In seiner französischen Heimat hat er als Ex-Tänzer Legendenstatus. Seine Ausbildung erhielt er an der ältesten Ballettschule der Welt, der 1713 gegründeten Tanzschule der Pariser Oper. 1979 wurde er – durchaus keine Selbstverständlichkeit – ins dortige Ensemble übernommen. Rudolf Nurejew ernannte ihn 1985 nach einer „Schwanensee“-Aufführung zum Danseur étoile – ein nur in der französischen Hauptstadt vergebener Rang, der noch über dem eines Ersten Solisten liegt. Hilaires an verschiedenen choreografischen Handschriften reiche Tänzerkarriere wurde durch zahlreiche Gastauftritte ergänzt – beim Royal Ballet in London, an der Mailänder Scala, beim American Ballet Theatre, Australian Ballet und Staatsballett Berlin.

2005 beendete er seine aktive Tänzerkarriere und wechselte auf die Ballettmeisterseite. Fortan studierte er Stücke von Jerome Robbins, Pierre Lacotte, Rudolf Nurejew, Serge Lifar, George Balanchine, Maurice Béjart, Angelin Preljoicaj, Jiří Kylián, William Forsythe, Anne Teresa De Keersmaeker und Alexei Ratmansky ein. Kooperationen brachten ihn zudem zum National Ballet of Canada, dem Teatro dell’Opera di Roma, dem Royal Swedish Ballet und zum Shanghai Ballet. Sechs Jahre später erhielt Hilaire den Titel „Maître de ballet associé à la direction de la danse“ und wurde damit zur „rechten Hand“ von Brigitte Lefèvre, der damaligen künstlerischen Leiterin des Ballet de l’Opéra de Paris. Diese hätte ihn, der an der Planung des Ballettprogramms beteiligt und für die gesamten Produktionsprozesse innerhalb des Ensembles verantwortlich war, gern als Nachfolger gesehen. Die französische Kulturpolitik entschied sich damals jedoch anders. Rückblickend betrachtet dürften Hilaires Auslandserfahrungen und -kontakte ihm danach sehr genutzt haben.

Nach eigener Aussage steht bei ihm an erster Stelle ein hohes tänzerisches Qualitätsniveau sowie Respekt und Kompetenz im Umgang mit alten wie neuen Ballettwerken. Was Hilaire allerdings von seinem Vorgänger in München unterscheidet – und das war bei seiner ersten Pressekonferenz bereits deutlich spürbar –, sind seine kommunikative Offenheit, sein lockerer Umgangston und die generelle Bereitschaft zum diskursiven Austausch. Bis zum Ausbruch des Ukraine-Kriegs hatte Hilaire fünf Jahre lang überaus erfolgreich die Ballettsparte am Moskauer Stanislawski- und Nemirowitsch-Dantschenko-Musiktheater geleitet. Übrigens: Sein Vorgänger dort war Igor Zelensky, der diese Position bereits 2016 zugunsten Münchens aufgegeben hatte.

Der ehemalige Moskauer Ballettchef

Unter Hilaires Direktion wurde das Stanislawski-Ballett zweimal in Russland als beste klassische und beste zeitgenössische Truppe ausgezeichnet. Nachdem er die choreografische Bandbreits des Ensembles weiter ausgebaut hatte mit Werken u.a. von Alexander Ekman, Serge Lifar, William Forsythe, George Balanchine, Paul Taylor, Jacques Garnier, Marco Goecke, Ohad Naharin, Johan Inger, Trisha Brown, Angelin Preljocaj, Sharon Eyal, Andrey Kaydanovskiy, Max Sevaguin und Hofesh Schechter, verließ Hilaire Moskau unmittelbar nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs.

In Moskau folgte Hilaire auf Zelensky und nun in München nochmals. Die erneute Rochade hatte sich angeboten, wenn nicht aufgedrängt. Sie ist die politisch schnellste, sinnvollste, künstlerisch jedoch vielleicht nicht die schlaueste Lösung dieser plötzlich entstandenen Vakanz. Seit vielen Jahrzehnten meint man in München auf einen selbst choreografierenden Ballettchef verzichten zu können. Igor Zelensky hatte deswegen den überaus begabten Andrey Kaydanovskiy als Hauschoreografen engagiert, der zuletzt mit seinem allerersten abendfüllenden Handlungsballett „Der Schneesturm“ einen Sensationserfolg beim Publikum erzielen konnte.

Laurent Hilaire übernimmt von Igor Zelensky eine durchweg multinationale Kompanie auf Top-Niveau. Wenn er dafür Sorge trägt, dass weiterhin alle Mitglieder des Bayerischen Staatsballetts – die ganz jungen und die schon erfahreneren Tänzer – ihre Chancen zur künstlerischen Selbstverwirklichung bekommen und wenn er – kurz gesagt – den Gemeinschaftsgeist weiter stärkt, ist er perfekt für den Job. Dass er die nötige Umsicht und Erfahrung dazu mitbringt, hat er beim Ballett der Pariser Oper wie am Stanislawski-Theater in Moskau bereits unter Beweis gestellt.

Hohe Ansprüche für München

Igor Zelensky war einst unter der ministerialen Vorgabe angetreten, das Niveau des Balletts dem extrem hohen der Opernsparte im Münchner Nationaltheater anzugleichen. Man war auf einem sehr guten Weg dahin. Dieses Ziel sollte auch Laurent Hilaire nicht aus den Augen verlieren. Vorgänger wie Nachfolger ist gemeinsam, dass sie keine Direktoren und Choreografen in Personalunion sind. An diesem Konzept, das das Bayerische Staatsballett einerseits mit dem konkurrierenden Stuttgarter Ballett verbindet, andererseits jedoch programmatisch stark von Hamburg, Nürnberg oder Hannover unterscheidet, wird nun weiterhin festgehalten.

Fürs Erste läuft Hilaires Vertrag bis 2026. Gleich am 9. Mai will er loslegen. Er sagt, es jucke ihn regelrecht in den Fingern, den Job, der ihm so unverhofft zugefallen ist, anzupacken. Noch mehr freue er sich aber darauf, im kommenden Jahr ein erstes selbstverantwortetes Saisonprogramm präsentieren zu können. Hilaires Herz für seine Künstler, vor allem aber seine Reputation in der Ballettszene ist mächtig groß. Denkbar gute Startbedingungen. „Man muss heute nicht mehr schreien, um im Ballettsaal und auf der Bühne Bestleitungen zu bekommen“, betont er bei seiner Vorstellung lächelnd. Ihm bei seinem Wirken in München ein wenig in die Karten schauen zu dürfen, wird gewiss spannend.