HAU 1

Das Hebbel am Ufer: Experimentierbude mit Niveau

Das Kreuzberger Theater Hebbel am Ufer zählt zu den führenden Produktionshäusern der freien Szene – und bleibt ein Gegenpol zu den großen Berliner Theatern. Das Programm: rigoros zeitgenössisch.

Auf den Plakaten des Hebbel am Ufer, genannt HAU, sind Tiere oder Avatare porträtiert. Andere Welten, andere Wesen: Das verspricht auch das Programm. In seiner Wundertüte steckt eine bunte Mischung aus Diskursen und theatralen Formaten. Neben den drei analogen Bühnen des HAU im Berliner Stadtteil Kreuzberg ist während der Pandemie mit der digitalen Bühne HAU 4 ein weiteres Spielfeld hinzugekommen, auf das man von überall zugreifen kann.

Wer sich im kleinteiligen Spielplan des HAU zu orientieren versucht, hat es nicht ganz leicht: Formate des Postdramatischen werden erprobt. Statt Stücke zu inszenieren, setzen sich lokale und internationale Akteure aus der freien Szene in eigenen Recherchen mit den gesellschaftlichen Diskursen der Gegenwart auseinander. Digitalisierung wird ästhetisch befragt. Gibt es eine Klammer, die das Programm zusammenhält?

In der Produktion „Virtual Wombs“ sitzen die Teilnehmerinnen mit VR-Brillen ausgestattet auf drehbaren Stühlen. Mit einem Kameraauge reisen wir ins Innere eines Körpers. Finden eine auf wenige Elemente und Farbflächen reduzierte Körperlandschaft vor, in der Schafe grasen, schwangere Männer am Rand von Bergbächen chillen. Auch Schwangerschaft, die sich außerhalb des Körpers, in einer Art Handtasche abspielt, wird imaginiert. Die Aufführung von Anna Fries und Malu Peeters wechselt zwischen VR-Erleben und Liveperformance. Wenn wir die Brillen auf Anweisung einer Stimme absetzen, tanzen Asaf Aharonson und Cécile Bally in futuristischen Fantasiekostümen mit Schwangerschaftsbäuchen um das Publikum herum. Es überwiegt der Eindruck, dass die aufwendige technische Umsetzung künstlerische Energie absorbiert hat, die an anderer Stelle fehlt. Bietet VR die Chance, Organismen jenseits der Geschlechternormierungen zu denken? Und was folgt daraus für unsere Lebensrealität? Ist Natürlichkeit nur ein Marketingversprechen? Solchen Fragen nachdrücklich auf den Grund zu gehen wäre interessant gewesen. Die Produktion aber bleibt thematisch an der Oberfläche.

Trotzdem: Zu fragen, was Digitalisierung mit den Menschen macht, ist wichtig. „Wir müssen hinschauen, müssen erfragen, was die Technologisierung für unser Leben und unsere Gesellschaft bedeutet. Und das auch kritisch, aber nicht nur“, sagt Intendantin Annemie Vanackere im Gespräch, und sie setzt nach: „Wir finden, dass unbedingt auch die Chancen der neuen Technologien künstlerisch zu befragen sind.“ Es gehe auch darum, die nächsten Generationen mit zeitgemäßen Formaten für Theater zu begeistern. Vanackere, die das HAU seit zehn Jahren leitet, ist eine offene Gesprächspartnerin, aufmerksam, selbstbewusst, aber nicht selbstzufrieden.

Annemie VanackereHAU-Intendantin Annemie Vanackere. Foto: Annette Hauschild

Das Ideal des Authentischen

„Keep it real“ ist ein Slogan des HAU, er bezieht sich kritisch auf das allgegenwärtige Ideal des Authentischen, das in einem seltsamen Kontrast steht zur rasanten Ausbreitung von KI in fast alle Lebensbereiche. „Du bist die Maske, du bist erfunden, du bist produziert und eingepreist, du bist performt, du bist industriell gefertigt …“ skandiert die Autorin Luise Meier in einem Handout, das die Plakatkampagne des HAU kommentiert. Das Theater leistet hier Pionierarbeit. Das Festival Spy on Me fand dort letztes Jahr zum vierten Mal statt. Die Pandemie habe das Engagement in Sachen Technologie erheblich beschleunigt, berichtet Vanackere. Die digitale Bühne HAU 4 kam mit dem Virus. „Den Prozess hatten wir schon angestoßen, aber wir haben in dieser Zeit strukturell noch mal stark ins Thema investiert“, sagt sie. Inzwischen habe sich die Situation wieder normalisiert. „Jetzt nutzen wir die Bühne wieder mehr für das Nachdenken über Technologien und für künstlerische Forschung.“ Auf HAU 4 findet man neben ­Streams und Lectures auch Texte, die programmatisch neue Formen des Theatralen verhandeln. Caspar Weimann schreibt in seinem Essay „Auf dem Weg zu einem nicht-binären Theater“, die Trennlinie zwischen analog und digital sei nicht mehr zeitgemäß.

Alles so schön bunt und auf programmatische Art unfertig hier. Jede Sparte, jede Gruppe bringe, berichtet die Intendantin, eigene Zuschauer:innen mit.
„A Plot/A Scandal“ (unsere Kritik zur Pre-Premiere bei der Ruhrtriennale 2022 finden Sie hier), ein thematisch wie ästhetisch starkes Solo der amerikanischen Choreografin und Tänzerin Ligia Lewis, spielte im Herbst vor ausverkauftem Haus, ein Highlight der Saison. Lewis nimmt die Bühne mit großen Schritten in Besitz, ohne uns mit einer Geschichte zu versorgen. Ein expressiver Tanz ihrer Urgroßmutter in Haiti sei von den Kolonialherren einst skandalisiert worden, erzählt sie. Auf diese Anekdote bezieht sie sich und verfolgt ästhetisch das Programm, Exotismus und Voyeurismus zu verweigern. Und das gelingt mit ihrer collage­artigen Performance. Humorvoll bis konfrontativ schlüpft Lewis in alle Rollen des Dramas der Unterwerfung, wird zur Dompteurin des Publikums.

Ligia Lewis in ihrem Erfolgsstück „A Plot/A Scandal“

Ligia Lewis in ihrem Erfolgsstück „A Plot/A Scandal“. Foto: Katja Illner

Experimentelle Formen der Narration erweisen sich als roter Faden am HAU. Mit „Life Goes On“ der Gruppe machina eX und dem „Farming Simulator Brandenburg“ der Gruppe The Mycological Twist waren beim Gaming-Fokus Play the Past am HAU zwei sehr unterschiedliche Erfahrungsräume zu erkunden. machina eX stellte ein Brettspiel bereit, bei dem vier Zuschauer:innen gemeinsam Licht in ein dubioses Immobiliengeschäft der Nachwendezeit im Osten der Republik bringen konnten. Mithilfe eines Zeitreisegeräts, das über vor­aufgenommene Audios funktioniert, erkundeten die Teilnehmenden die Geschichte des fiktiven Ortes Prückwitz. Sie tauchten ein in die Goldgräberstimmung nach der Wende. Die Macher:innen hatten für dieses Projekt eine Erzählung entwickelt, die sich erst im gemeinsamen Spiel der Teilnehmerinnen einlöste. Ganz anders, deshalb nicht weniger interessant war die Atmosphäre der Gaming-Session, zu der The Mycological Twist ins HAU 3 eingeladen hatte. Die Gamer:innen wurden vor Ort an den PCs Teil eines temporären Kollektivs, das mit dem Landwirtschaftssimulator, einem regulären Spiel des Entwicklers Giants Software, einen Betrieb führen sollte: Schweineaufzucht, Rübenanbau und mehr. Man kleidete einen Avatar ein, dessen Steuerung sich für Ungeübte als alles andere als trivial erwies. Auch in diesem Fall blieben die Fragen nach dem künstlerischen Mehrwert und dem kritischen Potenzial offen. Immerhin wurde das Theater als Raum der Begegnung genutzt.

Die Tanzperformance „Trajectories for a Landscape“ des Künstler:innenkollektivs zero point um die Choreografin und Tänzerin Meg Stuart beginnt im HAU 3 wie eine Vernissage. Ein Performer werkelt mit Konstruktionen aus Ästen, auf Screens sind tänzerische Miniaturen zu sehen. Wer durch die Räume streift, sieht Projektionen mystischer Landschaften, hört Musik, kann sich einlassen auf ein suggestives Gesamtkunstwerk. Doch das Ganze ist dramaturgisch zu wenig gefasst. Anders bei der „Konferenz der Abwesenden“ aus der Werkstatt der Gruppe Rimini Protokoll. Auf Bitte einer Stimme aus dem Off entschließen sich Zuschauerinnen und Zuschauer ad hoc, den Auftritt von Personen zu übernehmen, die selbst nicht anwesend sein können. Eine Person mit Locked-in-Syndrom, ein Jude, der sich unter dem NS-Regime mit einer falschen Identität retten konnte, ein Aktivist, der sich dafür einsetzt, keine Kinder mehr in die Welt zu setzen. Ebenso wie die Biografien faszinieren die spontanen Performances der Laien. Die Produktion entsprang der Idee, eine CO2-neutrale Show auf die Beine zu stellen. Angestoßen durch das Pandemiegeschehen und seine globalen Auswirkungen wird auf der Metaebene die Tatsache angespielt, dass wir miteinander verbunden sind. Rimini inszenieren geschickt das zuversichtliche Szenario einer (englischsprachigen) Weltgemeinschaft, in der jede:r für jede:n sprechen könnte.

Frage und Suche

Insgesamt hat am HAU das Unfertige, in die Zukunft Gerichtete seinen künstlerischen Ort. Wer Antworten sucht, wird enttäuscht. Wer Frage und Suche schätzt, wird reichhaltig bedient.

Die aktuelle Produktion des feministischen Performancekollektivs She She Pop heißt „Mauern“. Welche Utopien können wir mit in die Zukunft nehmen, fragen die Performerinnen und sortieren ihre Bücherschränke neu. Nach einem etwas zerfaserten Start schraubt sich der Abend im zweiten Teil hoch zu einer immer fantastischeren Collage von Zukunftsszenarien. Gastperformerinnen mit Ost-Sozialisation, mit osteuropäischem und südkoreanischem Hintergrund sorgen für ein breites Spektrum an Stimmen und Farben. Auf Gaze projizierte Bilder kaputter sozialistischer Wohnträume werden zum poetischen Bühnenbild. Die Utopie einer glücklichen Dorfgemeinschaft, in der alle alles teilen, wird zerfleddert im Diskurs der kapitalistisch deformierten Individuen. Wir müssen weiter. Immer weitersuchen.

Dieser Artikel ist erschienen im Februarheft 2023.