Szene aus "Faust"

Vielschichtiges Gedankentheater statt Schauspielkunst

Johann Wolfgang von Goethe: Faust I

Theater:Theater Freiburg, Premiere:16.04.2022Regie:Krzysztof GarbaczewskiKomponist(in):Jan Duszynski

Faust trägt einen lila Bart, den man auf den ersten Blick beinahe für eine FFP2-Maske gehalten hätte – so weit sind wir schon. Er hat stechend blaue Augen und tänzelt in einem schwarzen Nostradamus-Gewand spitzfüßig durch eine futuristische Fantasy-Kulisse. Am Rand der Bühne im Großen Haus des Freiburger Theaters steht der Schauspieler Victor Calero mit einer 3D-Brille und bewegt seinen Avatar. Willkommen in der Virtual Reality. Der polnische Regisseur Krzysztof Garbarczewski arbeitet vorzugsweise mit digitaler Technik im analogen Raum. Bei seiner dieser Produktion vorausgegangenen Inszenierung von „Faust II“ war nur ein Livestream möglich, der zu einer verwirrenden Seherfahrung führte. Nun kommt sein hybrides Arbeiten luzide zum Zuge.

Die ersten zwanzig Minuten von Goethes „Faust, der Tragödie erster Teil“ sind nur auf der riesigen bühnenbreiten Leinwand zu sehen. Dazu ertönt aus dem Off der Monolog des verzweifelten Gelehrten, der, „ach“, alles studiert hat, ohne dem Geheimnis dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält, näherzukommen. Der Regisseur und sein Dramaturg Andrzej Serafin (ein studierter Philosoph, der sich offenbar ausgezeichnet mit dem Werk des Freiburger Denkers Martin Heidegger auskennt – man sieht diesen minutenlang in Großaufnahme im Gespräch) nähern sich dem Stoff von der theoretischen Seite. Serafins Aufsatz ist das Gelehrteste und Klügste, das man seit Jahren in den Programmheften deutschsprachiger Theater lesen kann. Eine so tiefgreifende Auseinandersetzung mit Literatur ist man hierzulande nicht mehr gewohnt.

Dass darüber die Schauspielkunst zu kurz kommt: mag sein. Das Ensemble fügt sich in ein Inszenierungskonzept ein, das ein Joint-Venture zwischen avancierter Technik und literarischem Kanon eingeht. Nicht individuelle Darstellung ist hier gefordert, es geht nicht um ein psychologisches Drama zwischen Faust und Gretchen. Garbaczewski hat in einem Interview erklärt, was ihn allein interessiere, sei die poetische Sprache. Sicher: Das Team hat Kürzungen vorgenommen, die Walpurgisnacht beispielsweise ist komplett gestrichen. Aber dafür wird Fausts Monologisieren bis zur bitteren Neige ausgekostet.

Auf der Suche

Denn das ist ja sein Problem: Der Mann ist des Lebens überdrüssig, ein Nihilist der frühen Stunde, weil ihm der andere fehlt – beziehungsweise: die andere. In Garbaczewskis Lesart sind Faust und Mephisto eine Figur, zwei Seiten derselben Medaille. Ein kluger Schachzug der Inszenierung besteht darin, dass die beiden Darsteller nach dem Hexentrank die Rollen tauschen. Der mental verjüngte Faust wird ab diesem Moment von Thieß Brammer gegeben, Victor Calero mutiert mit schneeweißem langen Haar zum Althippie, der Love and Peace predigt. Den die repressive gesellschaftliche Moral verkörpernden Valentin, den Bruder Gretchens, mordet er kaltblütig mit dem Laser hin.

Sekundiert von einer Passage aus Heideggers Text „Wozu Dichter“ – in dem vom Fehl Gottes und dem Weltabgrund die Rede ist, durch den man schreiten muss, um ans Licht zu kommen – lässt sich Faust auf Laura Friedmanns selbstbewusste Margarete ein. Vor dem Mundloch der riesigen Vorhang-Fratze, die Aleksandra Wasilkowskas Bühne beherrscht, findet eine kitschige romantische Liebesszene statt.

Sie wird von Janna Horstmanns schlangenhaftem Winden im Glitzertrikot brutal konterkariert: Sie ist Marthe, die Kupplerin. Und dann hat die Regie noch einen weiteren Fremdtext eingefügt, einen knallhart pornografischen aus weiblicher Sicht. Klar: Es geht bei Fausts Begehren nicht um Liebe, sondern um dämonische Ausschweifung, erotische Transgression. Aber Margarete ist hier keineswegs das Opfer. Faust hat sie nicht zerstört. „To be continued“ ist am Ende auf der Leinwand zu lesen. Das ist wörtlich zu nehmen. Demnächst ist in Freiburg der ganze Faust von Krzysztof Garbaczewski zu sehen: ein höchst anregendes, vielschichtiges Experiment.