Am Anfang ist die Bühne leer, in den Ecken machen Schauspieler:innen Geräusche und Musik und beginnen mit der Erzählung einer Geschichte: Es geht um Bo (Roman Mucha), einen Teenager, der mit seiner Mutter in eine andere Stadt gezogen ist, auch noch auf die „schlechtere Seite“ des Flusses, wo es den Leuten schlechter geht. Bo ist einsam und wütend. Er schmeißt Dachziegel in den Fluss, schaut auf die Silhouette der Stadt, die hereingeschoben wird, und er steigt auf eine Treppe – auf die Dächer. Hier begegnet ihm Mira (Maria Trautmann). Sie hat gesehen, was er mit den Dachziegeln angestellt hat und erzählt ihm eine alte Geschichte, um ihn zu beruhigen.
Jetzt und einst
Anders als in der Vorlage der persischen Märchensammlung, in der Scheherazade Geschichte um Geschichte erzählt, um ihren Tod aufzuschieben, hat „1001 Nacht oder die Macht des Erzählens“ im Theater an der Ruhr keine Reihenstruktur. Bo verwandelt sich beim ersten Märchen in den Sultan einer Geschichte, der Umstieg aus der Jetzt-Zeit in die alte Zeit im Orient gelingt überraschend problemlos. Durch die Verwandlung löst der Bo-Sultan eine weitere Geschichte aus, in der es wiederum um die Erzählung als Darstellungsform geht:
Der Sultan verurteilt drei Märchenfiguren zum Tod und um ihr Leben zu retten, müssen sie: erzählen. Die erste Geschichte gelingt nicht gut, die zweite schlecht – sie wird etwas zu hemdsärmelig vorgetragen von Kornelius Heidebrecht–, die dritte aber gerät so spannend und bewegend, dass sie den doppelten Erzählrahmen sprengt. Dieses Märchen vom Dschinn und dem Fischer wird dadurch von dramaturgischen Zwängen befreit und wirkt aus sich selbst.
Komplizierte Erzählstruktur, tolle Aufführung
Die Erzählstruktur ist kompliziert, wurde zwar aus der Vorlage entwickelt, bildet sie aber nicht ab. Und trotzdem funktioniert sie prächtig für ein junges Publikum, durch Rhythmus und Timing der Aufführung, durch das genaue, unaffektierte Spiel hinter der vierten Wand. Das Publikum wird nicht durch die Form und die Spannung der Märchen gebannt, sondern durch den breiten Erzählfluss. Jeder Geräuschfetzen, jedes kleine Musikstück, jeder Blick, jedes Wort trägt dazu bei, es gibt keinen dekorativen Rest. Und die Bilder werden im Lauf des Abends größer. Auf dem Höhepunkt wird der bekannte Geist aus der Flasche zum Riesen-Popanz mit dem verzerrten Gesicht und der Stimme von Schauspielerin Dagmar Geppert. Er bedroht den Fischer und verwandelt ihn in einen Affen.
Dann ist der Erzählbogen auserzählt, aber der Fischer muss noch zurückverwandelt, der Theaterabend noch beendet werden. So wirkt leider ausgerechnet das Ende dieser außerordentlichen Aufführung etwas leblos, wie ein neuer Anfang ohne Ende; es wird mit poetischer Musik aufgefangen, angeführt durch das Posaunenspiel von Maria Trautmann als Teil eines wunderbaren Schauspiel- und Musiksextetts. Das junge Publikum applaudierte müde und enthusiastisch, als wäre es aus einem tiefen Traum erwacht.