Foto: Hans Fleischmann und das Ensemble feiern mit Luftballons. © Susanne Reichardt
Text:Manfred Jahnke, am 6. Juli 2025
In der Neuinterpretation von William Shakespeares „König Lear – Der letzte Gang“ am Theater und Orchester Heidelberg erkrankt Lear an Demenz und muss Schritt für Schritt seine Selbstbestimmung aufgeben. Regisseur Stas Zhyrkov zeigt mit seiner Inszenierung den Verlust eines Menschen, der am Ende doch wieder zu sich findet.
Der Regisseur Stas Zhyrkov und der Schriftsteller und Dramaturg Pavlo Arie sind ein eingespieltes Paar, wenn es um die Überschreibungen klassischer Texte geht. Aktuelle Erfahrungen reiben sich an den alten Stoffen. Am Theater Heidelberg setzt sich das Team mit „König Lear – Der letzte Gang“ auseinander. Wie schon der zweite Teil des Titels andeutet, konzentriert sich diese Überschreibung auf Lear selbst. Die zweite Handlungsebene bei Shakespeare um die beiden Söhne Glosters, um Edgar und den Bastard Edmund, ist gestrichen. Damit wird „Lear“ zur Familiensaga.
Geschichte eines Verfalls
Lear hat sich in den Nachkriegsjahren ein Restaurantimperium erarbeitet, das er nun seinen drei Töchtern übergeben will, nicht ohne ihnen vorher ein verbales Liebesversprechen abzupressen. Hans Fleischmann gibt diesem Lear wütende Töne. Schon vom geistigen Verfall gekennzeichnet, kann er sich mit der Welt nicht versöhnen. Was Zhyrkov an diesem Lear interessiert, ist die Studie einer Demenz. Die erspielt Fleischmann großartig. Solange er sich als Lear noch in der Welt „seines“ Restaurants bewegt, schwingt er sich zum Haustyrannen auf. Später – im Altenheim – findet er in der Isolation zu sich selbst.
Zhyrkov führt nicht nur die inneren Vorgänge vor, sondern übersetzt sie auch in klare bildhafte Zeichen. Lorena Díaz Stephens und Jan Hendrik Neidert (Bühne und Kostüme) haben eine große Wand auf der Drehbühne montiert. Eine Seite zeigt die Wand einer Bar voller Flaschen, auf der anderen Seite herrscht die Kargheit einer Großküche. Später verwandelt sich diese Seite in ein Altenheim, in dem sich Lear und sein Jugendfreund Gloster, von Andreas Seifert mit realistischem Blick und bitterem Unterton dargestellt, treffen. Je weiter aber die Demenz fortschreitet, umso leerer wird die Szene. Bühnenarbeiter bauen die Wand ab, bis am Ende nur noch ein Herd auf der Bühne steht. Im Bühnennebel entzündet ein gebückter Lear die Flamme, schlägt am Pfannenrand ein Ei auf, brät es und isst es direkt aus der Pfanne. Alle Einsamkeit um diesen Mann wird in diesem Abschlussbild sichtbar. Kein Ausweg, nirgends.
Frage der Eigenverantwortung
Im Verhältnis zu seinen Töchtern zeichnet sich schnell ab, dass er sich – mit dem Aufbau seines Imperiums beschäftigt – selten auf sie eingelassen, ihr Leben gar nicht wahrgenommen hat. Von daher kennen sie wenig Skrupel, sich gegenüber ihrem Vater wie „Monster“ zu gebärden. Während Zhyrkov Henriette Blumenau als Goneril und Lisa Förster als Regan mit Gläsern in der Hand in hysterische Haltungen treibt, hat Nele Christoph als Cordelia zu sich selbst gefunden. Sie beteiligt sich kaum an den Spielchen ihrer Schwestern, sondern lebt mit Françoise (Vladlena Sviatash als stille Beobachterin) zusammen. Denn auch darum geht es in diesem „Lear“, um die Selbstbestimmung des Individuums. Wie selbstbestimmt darf der demente Lear sein Leben gestalten? Wie selbstbestimmt gehen die Töchter mit ihrem Leben um?
André Kuntze als Kellner und Hendrik Richter als Albany ergänzen dieses großartige Ensemble, das eine Geschichte des asozialen Verlusts erzählt. Vom gefeierten Star immer mehr in die eigene Dunkelheit zu verschwinden, macht einsam, trotz aller Auflehnungsversuche: Das ist die Geschichte des Lears. Darin nähern sich Shakespeare und sein Bearbeiter Pavlo Arie an.