Ursina Lardi steht vor einer Leinwand, sieht sich selbst in einer Aufnahme verzweifelt auf dem Boden hocken.

Die Gewalt der Bilder

Milo Rau: Die Seherin

Theater:Schaubühne, Premiere:19.09.2025 (UA)Regie:Milo Rau

Braucht es Fotos von Kriegsleid, um Kriege zu beenden? Oder überwiegt das zynische, faszinierte Grauen, das diese Bilder auslösen? Der Theatermacher Milo Rau und seine Solistin Ursina Lardi stellen diese alten Fragen an der Berliner Schaubühne in „Die Seherin“ neu – dringlich, klug, aufwühlend.

Ursina Lardi steht in Jeans im schmutzigen Wüstensand, zwischen alten Autoreifen und Plastikmüll. Auf der Video-Wand über ihr dieselbe Landschaft, in der Ferne ein irakisches Flüchtlingslager, wie wir später erfahren. Bevor sie zu sprechen beginnt, arrangiert sie die Scheinwerfer auf der Bühne, als inszeniere sie sich selbst. So wie ihre Figur das Leid der anderen als Inszenierung begriffen hat – arrangiert für sie, um es via Kamera in die Welt zu befördern.

Lardi spielt eine Schauspielerin, die fast zufällig oder schicksalshaft zur Kriegsfotografin wird. Der Krieg und seine Bilder ziehen sie magisch an. Das fotografische Festhalten der Gewalt wird ihre Sucht, ja mehr noch: Sie entwickelt die Hybris, Bombeneinschläge vorauszusehen – und mit ihrer Kamera erst der Realität zuzuführen. Sie wird zur „Seherin“, die das Leid der anderen, wir sehen es in ihren erstaunten Augen, so fasziniert wie distanziert betrachtet. In jedem ihrer Worte spiegelt sich der Zwiespalt der medialen Darstellung von Gewalt: die Pflicht, das Unerträgliche in die Wirklichkeit zu tragen, der Zynismus, den Markt der Sensationen zu bedienen.

Der Zynismus der Kriegsbilder

„Wenn ein Krieg länger dauert als drei Monate, interessiert sich niemand mehr dafür. Presseagenturen lieben das erste Blut. Aber warum sollten sie über das hundertste Attentat berichten?“. Den kalten Blick trägt auch sie in sich: „Hier: die Leichen am Strand von Khao Lak, nach dem Tsunami. Wie schlafende Badegäste. Ein super Bild, oder? Man muss zweimal hinschauen, bevor man den Tod sieht. Ganz anders hier: Leichenschauhaus. Ein Vater mit seinen toten Söhnen. Genau, das ist natürlich Gaza. Was ich bedaure? Dass ich den Bosnienkrieg verpasst habe.“

Bis sie selbst Opfer der Gewalt wird. Ihre Figur ist zwar fiktiv, eingeflossen sind aber Gespräche mit realen Kriegsfotografen, mit Menschen aus dem Irak sowie Reisen, die Regisseur Milo Rau und Ursina Lardi nach Mossul gemacht haben. „Das Stück ist also im eigentlichen Sinn autobiografisch“, so Rau in einer Vorbemerkung zum Text. „Es beruht auf Zeugenschaft und der Überschneidung von Prägungen: Es geschieht nichts, was ich nicht selbst erlebt habe oder was mir nicht Menschen, denen ich nahestehe, erzählt haben. Die Fotos, von denen hier die Rede ist, wurden wirklich gemacht, die Gespräche geführt, die Begegnungen, tragisch oder freundschaftlich, fanden so statt.“

Im Irak sind Milo Rau und Ursina Lardi auf den Lehrer Azad Hassan gestoßen, der jetzt im Video mitspielt. Aus der Ferne kommt er darin auf uns zu. Eine Hand immer in der Jackentasche. Erst später sehen wir: Nur ein Stumpf ist davon übrig geblieben. 2015 haben ihm IS-Schergen in einem öffentlichen Tribunal die Hand abgehackt. Mit Azad Hassan gelangt die reale Kriegsgewalt in den Abend, ähnlich wie Milo Rau es im Stück „Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“, ebenfalls mit Ursina Lardi, inszeniert hat. Damals mit Consolate Sipérius aus Burundi, die für die koloniale Ausbeutung Afrikas durch den Westen stand.

Kaum Gewaltdarstellung auf der Bühne

Die Gewalt, das ist der Clou der Inszenierung, wird nun auf der Bühne kaum abgebildet. Anders als in vielen anderen Rau-Inszenierungen. Und doch ist die Faszination für sie allgegenwärtig. Im Grauen der pointierten Erzählung von Azad Hassan. Im Voyeurismus, der in den detailgenauen Schilderungen von Ursina Lardi liegt. Milo Rau weiß, diese Effekte zielgenau einzusetzen – ist aber klug genug, seine eigene Faszination für Gewalt ebenfalls zu thematisieren.

Und so macht dieser intelligente, aufwühlende Abend mit seiner herausragend präzise spielenden Hauptdarstellerin Fragen auf, die weit über die gängige Medienkritik hinausgehen. Bedrückende Fragen, vor allem von Azad Hassan. Er kommt nicht über die johlende Menge hinweg, die sich freut, als ihm die Hand abgehackt wird. Über die Brutalität im nahen Umfeld. Aber auch Fragen wie: Brauchen wir Bilder, etwa aus Gaza, um Kriege zu beenden? Wer hat die Hoheit über diese Bilder? Fragen, die natürlich schon die Fotografie-Ikone Susan Sontag gestellt hat, die jedoch in Zeiten von Social Media und KI dringlicher werden.

Keine einfachen Antworten

Dass Milo Rau auch noch die Ebene des antiken Dramas, des Trojanischen Kriegs einwebt, mit Ursina Lardi als Seherin Kassandra und als verwundeter Krieger Philoktet, verleiht dem Abend zwar eine allzu pathetische Note. Ebenso wie Bachs „Agnus Dei“, das den Abend musikalisch grundiert. Doch eine derart ambivalente, zerrissene Figur wie die der Fotografin, die uns jeden einfachen Ausweg aus dem Dilemma versperrt, hat man lange nicht mehr auf der Bühne gesehen.