Foto: Johanna Engel, Fenna Benetz und Seraina Löschau müssen zusammenhalten. © Alexander Gonschoir
Text:Manfred Jahnke, am 2. Februar 2025
Das ITZ im Tübinger Zimmertheater bringt unter der Regie von Magdalena Schönfeld Leo Lorena Wyss‘ „Muttertier“ auf die Bühne. Eine Inszenierung, die vor allem durch die Ensembleleistung zu beeindrucken weiß.
Was als eine einfache Handlung erscheint – drei Töchter versammeln sich mehr oder weniger zögerlich vor dem Krankenhaus, in dem ihre Mutter liegt, weil sie zu viele Tabletten eingenommen hat – erweist sich als vielschichtig. In „Muttertier“ entwickelt Autor:in Leo Lorena Wyss auf verschiedenen Zeitebenen die Beziehung zwischen einer psychisch überforderten Mutter und ihren drei Töchtern. Einen Vater gibt es in dieser Erzählung nicht.
Wenn in der Rahmenhandlung gesetzt ist, dass die drei Töchter sich nach langer Zeit am Krankenbett der Mutter versammeln, drängen sich Erinnerungen aus der Kindheit auf. In der Inszenierung von Magdalena Schönfeld am ITZ im Tübinger Zimmertheater treten Fenna Benetz, Johanna Engel und Seraina Löschau als Chor auf, der die Sätze mit einem kurzen keuchenden Stoß am Ende beendet: Es nimmt ihnen die Luft, der Atem ist schwer. Gleichzeitig erinnert das Geräusch an das Knistern von Plastik, ein Geräusch, wie wenn die Mutter die Heidelbeerbeutel austrinkt und sich nur noch Luft in der Tüte befindet.
Zwischen Erinnerung und Gegenwart
Das „Muttertier“ tritt nicht auf. Seine Abwesenheit wird von den Töchtern schmerzlich erspielt. In der von Clara Strasser erbauten Szene – Wracks eines Kinderkarussells auf einem braunen Teppich – werden die Trümmer dieser Kindheit sinnfällig, in der sich die drei Schwestern in die Welt des Films „Titanic“ flüchten. Sie erinnern sich aber auch intensiv an einen wunderschönen Schwimm-Nachmittag mit ihrer Mutter. Schönfeld macht diese Erzählebenen in ihrer Inszenierung einsichtig. In der Gegenwart tragen die Geschwister Mäntel und Jacken. Wenn sie zu Kindern werden, die schwimmen gehen wollen, trägt eine eine Taucherbrille, die andere Schwimmflossen, die dritte Plastikschwimmhilfen.
Dass die Mutter unter psychischen Störungen leidet, mit Tabletten, die sie müde machen, sich der Wirklichkeit entzieht – und damit ihre Kinder alleine lässt, wird von Wyss nicht angeklagt, sondern in einer durchrhythmisierten Sprache plastisch und poetisch beschrieben. Gemeinsame Erfahrungen der drei Töchter werden chorisch geformt. Da findet in Tübingen eine tolle Sprachregie statt. Aus dem Chor heraus heben sich dann die einzelnen Stimmen heraus. Jede der Töchter bringt eine eigene Erfahrung ein. Eine der Töchter hat selbst ein Kind und beginnt, ihre Mutter zu verstehen.
Schmerzhaft Sinnfällig
Leo Lorena Wyss sieht Mutterschaft in einem gesellschaftspolitischen Horizont. Gegen die Mystifizierung von „Mutterschaft“, zeigt das Stück auf, was eine Mutterschaft mit einer Frau macht – im Spiegelbild ihrer Töchter. Der Tübinger Inszenierung von Magdalena Schönfeld erspielt das mit einem herausragenden Ensemble schmerzhaft sinnfällig, ohne leise komische Untertöne zu unterschlagen: Wie Fenna Benetz die Kleine, Johanna Engel die Mittlere und Seraina Löschau die Ältere anlegen, demonstriert ein starkes Ensemblespiel. So stark, dass sich wiederum das Spiel der Einzelnen nicht beschreiben lässt. Hier agiert das Ensemble.
Ein weiterer verdienter künstlerischer Erfolg für das Zimmertheater Tübingen. Wenn es denn nicht einen Wermutstropfen gäbe: In dieser Woche hat der Tübinger Gemeinderat beschlossen, den Etat des Zimmertheaters um über 25 Prozent zu kürzen. Das geht an die Existenz der Institution. Wie es weitergehen soll, muss demnächst der Verwaltungsrat des Theaters entscheiden. Es wäre schade, wenn die Sparmaßnahmen den Spielbereich treffen sollten. Denn nicht nur mit „Muttertier“ weist das ITZ im Zimmertheater Tübingen auf seine hohe künstlerische Qualität hin, sondern hat diese schon in vielen Produktionen in der Vergangenheit bewiesen.