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Ein Sturm weht vom Paradiese her…

Ferdinand Bruckner: Elisabeth von England

Theater:Theater Ansbach, Premiere:03.10.2015Regie:Susanne Schulz

Die Weltgeschichte ist nichts als eine öde Lichtung inmitten eines wuchtigen, im Fallen erstarrten Balkenwaldes. Und diese schwarzdüstere Balkenhöhle ist gewiss kein Ort zum Glücklichwerden. In der Tat: Glücklich ist am Ende von Ferdinand Bruckners Historiendrama „Elisabeth von England“ so gut wie niemand. Englands Königin hat ihren Geliebten enthaupten und sich selbst in einen Krieg treiben lassen, den sie nie wollte. Die Freude am Sieg wird ihr schal, weil Englands neue Macht sie zwingt, im ihr verhassten Selbstbehauptungskampf der Nationen mitzuspielen. Und ihr Widersacher Philipp II. von Spanien stirbt, militärisch geschlagen und unter den Qualen von Gicht und Eiterwunden. So also geht die Geschichte über ihre Protagonisten und deren mehr oder weniger gute Hoffnungen hinweg in eine Zukunft, die keiner gewollt hat, und der sich doch jeder fügen muss.

Und so wird bei dieser Eröffnungspremiere einer neuen Intendanz am Theater Ansbach das berühmte „Angelus Novus“-Kapitel aus Walter Benjamins Schrift „Über den Begriff der Geschichte“ zitiert: Wo dem menschlichen Betrachter eine Kette von Begebenheiten erscheint, da sieht Benjamins auf die Vergangenheit zurückblickender „Engel der Geschichte“ nur „eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“ Ein Sturm, der vom Paradiese her weht, packt ihn bei den geöffneten Flügeln und treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, und das Trümmerfeld wird immer größer… Wer sich solche Gewährsleute sucht, dem geht es natürlich nicht nur um die historische „Begebenheit“. Genau deshalb hat der Ausstatter Jörg Zysik für die geschichtlich im spanisch-englischen Krieg des 16. Jahrhunderts klar verortete (wenn auch keineswegs exakt nacherzählende) Handlung eben keine historische Szenographie auf die Bühne des Ansbacher Borkholder-Hauses gewuchtet, sondern eine düstere Balken-Architektur.

Das entspricht auch Bruckners eigenen Intentionen. Auch er sucht im Historiendrama das überzeitliche Paradigma. So stilisiert er Elisabeth zur gescheiterten Protagonistin eines Ideals friedlicher Koexistenz der Königreiche. Philipp wird zum fanatischen Imperialisten im Namen Gottes. Und wenn Francis Bacon hier zum Vertreter einer aggressiven Nationalstaats-Idee wird, dann hält Bruckner damit seiner eigenen Gegenwart den Spiegel vor. Dass sich diese Grundlinien bis ins Jahr 2015 verlängern lassen, liegt auf der Hand. Sie verlaufen dann sogar bis zu jenem dritten Oktober, an dem die deutsche Nation auf 25 Jahre Wiedervereinigung zurückblickte – und an dem Susanne Schulz als neue Intendantin am Theater Ansbach ihre erste Spielzeit eröffnete. Zum Auftakt also statt launiger Unterhaltung Theater mit historisch vermitteltem Aktualitätsbezug. Und das auch noch mit einem Stück, bei dem man schon bei der ersten Lektüre vor allem eines sofort versteht: Warum es seit über 70 Jahren kaum noch gespielt wird.

Bruckners Dramaturgie beispielsweise ist nicht eben stringent. Die Handlung mäandert in langen Dialogen, großen Ensemble- und sogar Simultanszenen über Nebenkriegsschauplätze und Episoden hin und erzählt viel mehr, als es zur Vermittlung des pessimistischen Geschichtsbildes bräuchte. Sie tut das deshalb, weil Bruckner „Geschichte“ unter eine merkwürdige Doppelperspektive stellt, deren Fluchtpunkte nicht wirklich zur Deckung kommen. Zum einen zielt er auf die Analyse typologischer historischer Grundstrukturen, zum anderen aber will er Historie aus der individualpsychologischen Verfassung ihrer Protagonisten zu erklären. Vor allem Elisabeth wird nach der Psychologie des frühen 20 Jahrhunderts als moderner Charakter dargestellt, als eine zugleich starke, selbstständige, aber auch nervöse und kapriziöse Frau. Manche ihrer Entscheidungen erscheinen wie eine persönliche Allüre. Dass diese Individualisierung dem typologischen Ansatz wiederspricht, liegt auf der Hand. Und dass man zur psychologischen Entwicklung solcher Seelenlandschaften viel Text braucht, natürlich auch.

Wie also mit diesen Problemen umgehen? Susanne Schulz hat vor allem eines gemacht: beherzt gestrichen. Von einer möglichen Spieldauer von über vier Stunden sind gerade mal zweieinhalb übrig geblieben, was erstaunlicher Weise zwar ganz gut funktioniert, den Zuschauern aber erhebliche Konzentration abverlangt. Allein schon das Who-is-who im personenreichen Tableau ist ein anspruchsvolles Spiel. Und das ausgefeilte Seelenleben gibt den Ansatz der Regie vor: psychisch intensiv ausgearbeitete Charaktere. Hier sind vor allem die beiden Protagonisten bemerkenswert: Sophie Weikert ist eine schlanke, hochaufgeschossene Elisabeth von spröder Nervosität, die vor dem auf sie ausgeübten Entscheidungsdruck immer wieder in die Caprice flüchtet, selbstbewusst und zugleich entscheidungsschwach, nach Liebe suchend und bindungsscheu, ein sehr komplexer Charakter. Und Valentin Bartzsch zeigt uns den Essex als Sonnyboy der Liebe und der Politik: ein ebenso charmanter wie überspannter Draufgänger, der viel zu spät merkt, dass weder die Liebe einer Königin noch die Rebellion gegen sie zum unverbindlichen Spiel taugt. Schade ist nur, dass bei beiden die Differenzierung verloren geht und einer etwas lautstark outrierten Dramatik weicht, sobald die Szenen emotionaler werden.

Die übrigen Charaktere sind eindimensionaler, was auch an Schulz’ Kürzungen liegt, aber keinen wirklichen Schaden anrichtet. Hartmut Scheyhing ist ein markig zur politischen Sache gehender Walsingham, den Philipp legt er dann ganz auf den rauhkehlig bramarbasierenden, hohläugig verzückten katholischen Fanatiker fest, das allerdings mit viel Charisma. Andreas C. Meyer gibt den Bacon als aaligen Intriganten der politischen Vernunft. Gerald Leiß ist als Cecil der Typ des geschäftig besorgten Beraters. Dave Wilcox ist ein Coke von bodenständiger Eindimensionalität. Und Katja Straub und vor allem Claudia Dölker beweisen in gleich mehreren Doppelrollen Wandlungsfähigkeit.

Susanne Schulz’ Ensemble ist sehr vielseitig begabt: Claudia Dölker hat historisch stilisierte Choreographien für etliche Ensembleszenen entworfen; Hartmut Scheyhing hat die musikalische Einstudierung für einige Gesangsszenen übernommen. Die Bilder dieser Inszenierung mit den historisch kostümierten und auch im Habitus stilisierten Figuren im düsteren Balkenwald, der Soundtrack mit Arvo Pärts Violinmusik und den Originalkompositionen von Robert Wolf – all das gibt der Inszenierung eine einsaugend düstere Atmosphäre. Die Aktualität des Geschehens freilich muss der Zuschauer selbst herstellen, da bleibt die Inszenierung (abgesehen vom bereits erwähnten, per Lautsprecher eingesprochen „Angelus Novus“-Text und wenigen anderen Zutaten) ganz eingeschlossen in ihre eigene Ästhetik. Deren Mittel sind seit Jahrzehnten erprobt. Überzeugend ist die handwerkliche Seriosität und konzeptionelle Konsequenz, mit der sie eingesetzt werden.

Ansbachs Theater ist klein, und es ist jung. Viele hier trauern noch dem Gründungs-Intendanten Jürgen Eick und seinem Ensemble nach, der 2007 im Auftrag der Genossenschaft Theater Ansbach – Kultur am Schloss eG als Träger das „Ansbacher Theaterwunder“ aus dem Boden stampfte, indem er statt des hier jahrzehntelang betriebenen gesichtslosen Gastspielbetriebes eine eigene Bühne auf die Beine stellte. Das aber heißt auch: Das Ansbacher Publikum ist alles andere als theatererfahren. Eick hatte einen Start voller Elan hingelegt. Aber Theater als fordernde Kunstform auf Augenhöhe mit der Gegenwart muss sich in Ansbach erst noch etablieren. Von daher war Susanne Schulz’ Start sehr mutig: eine enorme Beanspruchung des Hauses, die das ganze Ensemble extrem gefordert hat; und eine mutige Herausforderung ans Publikum zur Auseinandersetzung mit einem sperrigen Stück. Bei der Premiere wurde die Herausforderung angenommen: Die Aufmerksamkeit während er Aufführung war spürbar hochkonzentriert, und der Beifall am Ende war ebenso spürbar begeistert. In den nächsten Monaten hat sich Susanne Schulz ein ambitioniertes Programm mit unterschiedlichen Genres und Formaten vorgenommen, das an einem Haus mit einem 1,2-Millionen-Etat enorm ehrgeizig ist. Man darf gespant sein, wie es in Ansbach weitergeht.