Buchcover "Das Pferd im Brunnen" von Valery Tscheplanowa

Buch: „Das Pferd im Brunnen” von Valery Tscheplanowa

Valery Tscheplanowas Sprache in ihrem Debütroman „Das Pferd im Brunnen” ist packend und auf den Punkt gebracht. Die erfolgreiche Schauspielerin hat gerade erst im Juli in der Titelrolle in Ulrich Rasches „Nathan der Weise” in Salzburg begeistert.

Ausgangsort des Romans über eine russische Familie ist Tscheplanowas Heimatstadt Kasan in der sowjetischen Provinz und erzählt wird teils autobiographisch über vier Generationen, primär aus der Perspektive der Frauen. Mit allen Sinnen taucht man als Leser:in in den Lebensrhythmus der Protagonist:innen ein, bis man die Fischgrätendielen unter den Füssen spürt und aus der Küche Bratkartoffeln riechen kann, die immer ganz vorsichtig gewendet werden.

Die Kapitel folgen keiner Chronologie. Durch diese zusammengestückelten Momentaufnahmen wirken die erzählten Lebensausschnitte austauschbar, sie finden im Irgendwann in einem zurückersehnten Kommunismus in sowjetischer Zeit statt. Wirkungsvoll beschreibt die Autorin das Schlangestehen darin als eine sozialistische Alltagshandlung, bei der ohne Hierarchie alle gleich sind und sich in Geduld geübt wird.

Fremde Familienbande

Tscheplanowa schafft, den fleischlichen Zerfall eines Körpers nüchtern und nicht ohne Schönheit einzufangen: „Vielleicht sind wir alle geliehen, Leihobjekte, geliehene Haut, Knochen, Fleisch und Zähne. […] Leihmädchen, -frauen, -jungen und -herren, die die Straßen bevölkern und so sehr mit zärtlicher Hingabe hoffen, einzigartig zu sein.” Es scheint, als bleibe die Autorin selbst mit einem Staunen vor diesen aufopfernden, weggelebten Schicksalen zurück, mit einem distanzierten Blick auf ihre eigene DNA. Einerseits mit Wärme, wenn aus Familienbanden irgendwann Freundschaften wachsen oder aber mit einer Sehnsucht, die immer mit Fremdsein beantwortet wird.

Aus den Protagonist:innen spricht große Einsamkeit und auch Stolz, da, wo beispielsweise die Urgroßmutter unter der Entwurzelung der Familie leidet: „Oft hält sie die Hände ihrer Urenkeltochter in ihren großen, rauen Händen und schüttelt den Kopf. ,Wie willst du damit arbeiten, Kind, mit deinen kleinen Händen?’” Vielleicht schreibt Tscheplanowa über die Wehmut einer Heimat, die einen ausmacht und die man nicht kennt — wie soll man so diesen einen Teil in sich selbst kennen lernen?

Die eigene innere Stärke

Was bleibt, ist eine Sammeltüte aus Kindheitsdingen, wie etwa der Geschmack nach Kirschmarmelade mit Kernen. Bei Tscheplanowa bekommt selbst die verstaubteste Erinnerung einen rührenden Charakter und aus dem Schaukelstuhl, in dem immer die Urgroßmutter saß, wird schließlich in den Fußstapfen ihres Erbes ihr Schaukelstuhl. Diese Zufälligkeit eines Lebensweges brennt sich ein: „In jedem Schädel schreibt wohl ein Erzähler für einen einzigen Leser eine Geschichte, deren Ende der Schreibende nicht kennt.”

Der Titel rührt schließlich von Tscheplanowas beschriebenem Beobachten junger Erwachsener, die „ausgebremst” und „an unsichtbare Zügel gelegt” scheinen: „Als ich selbst so eine Erwachsene geworden war und mich im Spiegel betrachtete, sah auch ich in meinem Gesicht das Pferdegerippe, das endlich aufstehen will.” Ein einprägsames Bild über innere Stärke, die jede:r nur selbst in sich finden kann.

Das Pferd im Brunnen. Valery Tscheplanowa, Rowohlt Berlin Verlag, 22,00 €, 191 Seiten, erschienen am 15.08.2023.