Buch: Surf durch undefiniertes Gelände

Romeo liebt Julia und Amalia liebt Karl. So oder so ähnlich war es seit Jahrhunderten. Doch inzwischen ändern sich diese einfachen Rollenbilder: Karl liebt Romeo und Ophelia wird lieber selbst zu Hamlet. Das Spektrum der Geschlechter sowie der Liebe wird größer, sodass jeder Mensch darin seinen Platz finden kann.

Auch im Theater ist diese Entwicklung angekommen, Menschen und Beziehungen jenseits der binären Geschlechtereinteilung und den heteronormativen Begehren bekommen hier Raum. Spielvorlagen zum Thema habe ich in der Anthologie mit dem wunderbaren Titel „Surf durch undefiniertes Gelände“ gefunden, die queere Theatertexte aus unterschiedlichen Ländern versammelt.

Schrecklich und lustig

Eine Regisseurin sitzt im Theater und schaut zu, wie zwei Schauspielerinnen eine gemeinsame Sex-Szene nachspielen. Möglicherweise müsste sie den beiden mehr Anweisungen geben, doch vielleicht läuft die Szene schon in ihrem Sinne, vielleicht ist sie mit ihren Gedanken einfach nicht bei der Sache. Sie denkt an die Gespräche mit ihrem Vater, dem Theater-Intendanten, der ihr zu viel über lesbische Frauen erzählt, mit ihrem Bruder, der ihre Inszenierungen alle etwas zu aufgesetzt und übertrieben findet und ihrer Partnerin, die ihre Beziehung im Theaterstück entblößt sieht. Ob etwas davon wirklich passiert ist, wissen wir nicht. Es ist Teil des Stücks „Bühne des Begehrens“ der Autorin Milja Sarkola, das auf eindrückliche und kompromisslose Weise weibliches Begehren zeigt und gleichzeitig Fragen an die Grenzen autobiografischen Schreibens stellt.

Die Theatertexte in dieser Sammlung haben mich besonders durch ihren Humor überrascht. In Raphael Amahl Khouris Stück „She He Me“ berichten drei queere Figuren von ihrem Leben, das gezeichnet ist von Gewalt und Ächtung durch die eigene Familie. Dabei unterstützen die jeweils anderen beiden die Erzählung, indem sie einzelne Rollen übernehmen, was den Schrecken der Erzählungen nicht verschwinden, aber ertragen lässt.

Spannende Vielfalt

Tatsächlich verspricht der Titel des Buchs nicht zu viel, der Band hat mich auf eine Reise durch ein weites Feld mitgenommen, auf der ich mehr erfahren habe über die verschiedenen Arten des Begehrens, über den Umgang damit in unterschiedlichen Teilen der Welt und nicht zuletzt ganz vielfältige Zugänge zum Schreiben für das Theater.

Die Dramatikerin Ebru Nihan Celkan ließ sich für ihr Stück „Der Tag nach dem Tag, an dem niemand starb“ von Travestie-Shows inspirieren, wobei es in dem Solo um die allgegenwärtige Gewalt gegen LGBTGI* in der Türkei geht. Dass das kein neues Phänomen ist, berichtet ebenfalls Marine Bachelot Nguyen, die ihre Forschungsreise nach Vietnam in „Schatten und Lippen“ verarbeitete. Sie verbindet die Geschichten von Pride-Aktivisten, die sie auf ihrer Reise traf, mit Blicken in die vietnamesische Geschichte, in der die Kolonisatoren die Offenheit der Gesellschaft für queere und genderfluide Lebensweisen zerstört haben.

Im titelgebenden Text „Surf durch undefiniertes Gelände“ von Marie Henry begleitet ein Vater sein Kind in langen Kleidern zur Schule, um zu zeigen, dass man sich dafür nicht schämen muss. Dabei spielt die Autorin wunderbar mit den Bildbeschreibungen und Dialogen, die immer wieder von einzelnen Einwürfen unterbrochen werden. Lyrischer ist das Stück „Wir sind schön, für hässliche Leute“ von Dany Boudreault, in dem ein Mensch zwischen den Geschlechtern zu stehen scheint und gleichzeitig mit sexualisierter Gewalt zu kämpfen hat.

Ich will diese Sammlung vor allem Intendant:innen an Herz legen: Ich als Leipziger will „Collective Rage“ von Jen Silverman gerne im Schauspiel sehen, möchte live erleben, wie fünf Menschen namens Betty der Langeweile ihres Mittelschichtsleben mit einer eigenen Theaterproduktion entkommen wollen und in unterhaltsamen Repliken die eigene Sexualität wiederentdecken. Und ich wünsche mir „Gender“ von Magne van den Berg auf dem Spielplan des Theaters der Jungen Welt, wo zwei befreundete Jugendliche diskutieren, ob Mädchen andere Mädchen küssen können und ob Jungs Frauenkleider tragen können, ohne sich zu blamieren. Aber auch für alle anderen ist dieses Buch eine Bereicherung, um mehr über die Vielfalt der Dramatik, der Geschlechter und der Liebe erfahren zu können.

Charlotte Bomy, Lisa Wegner (Hg.): „Surf duch undfiniertes Gelände“ (Drama Panorama – neue internationale Theatertexte, Bd. 4), 422 Seiten, Neofelis Verlag Berlin, ISBN: 978-3-95808-329-5.

Der Band ist im Frühjahr 2022 erschienen und zum Preis von 20 € im Buchhandel oder HIER zu erwerben. Mehr zum Inhalt und eine Leseprobe gibt es HIER.