Das Theater an der Glocksee in Hannover

Das Theater an der Glocksee Hannover: Lokal­gefunkel

Ein Ort der Utopie, der bewussten Provokation und der zeitgemäßen Themen: das Theater an der Glocksee in Hannover.

Lena Kußmann und Jonas Vietzke starren ganz nebenbei den Giganten an. Das Leitungsteam des Theaters an der Glocksee saugt, mit Tee und Zigarette in den Händen, die ersten paar Sonnenstrahlen des Frühlings auf. Gegenüber, direkt auf der anderen Flussseite: der Gigant, das Ihme-Zentrum, Hannovers fehlgeschlagene Brutalismus-Utopie. Hinter den beiden steht das Theater, die Fassade mit dem Spruch „Die Scheißmieten sind zu hoch“ besprüht. Weiter hinten dann der Rest des Glocksee-Komplexes: ein Jugendzentrum, eine Halfpipe, ein paar Proberäume, ein Indie-Club. Ein zweiter utopischer Welt- und Lebensentwurf in Sichtweite des anderen. Und das Theater an der Glocksee, wie absichtlich, zwischen den Utopien. Nicht ganz Teil davon, aber irgendwie schon.

Theatrale Transformation

Seit 2012 sind Kußmann und Vietzke Teil des Leitungsteams des Theaters. Beide haben Schauspielausbildungen durchlaufen, Kußmann vorher auch noch ein halbes Biologiestudium. Beide sind auch jenseits des Theaters an der Glocksee in unterschiedlichsten Kontexten aktiv. Kußmann eher in der freien Szene, Vietzke als freier Regisseur und Schauspieler auch an Stadt- und Staatstheatern. „Wir sind gerade in einer Transformationsphase“, sagt Kußmann und zeigt einen Aufkleber, auf dem „Fick dein Theater“ steht. „In der Coronazeit hieß es immer: ‚Rette dein Theater‘. Sind wir denn systemrelevant …? Wir sind, glaube ich, so ein bisschen müde davon. Wir müssen uns nicht ständig retten und beweisen und systemrelevant sein“, erklärt sie. „Ein Stück weit geht es um Selbstdemontage. Aber es ist auch eine Aufforderung der Auseinandersetzung damit. Man benutzt ja diesen eigentlich sehr schönen Vorgang als Schimpfwort. Aber es ist auch eine Aufforderung, sich zu reiben, körperlich zu werden, lustvoll. Aber auch eine kleine Provokation, auch an uns selber.“

Lena Kußmann und Jonas Vietzke

Lena Kußmann und Jonas Vietzke. Foto: Astrid Köhler

In den letzten Jahren gab es im Theater an der Glocksee sogenannte Jahresprojekte: 2020 „Plantkingdom“, in dem das theatrale Potenzial von Pflanzen erschlossen wurde. 2021 „PLUS X“ mit experimentellem und spontanem Theater, 2022 „I call it water“, in dem es um die knapp werdende Ressource Wasser ging. 2023 soll es kein Jahresprojekt geben. „Das ist auch das Bedürfnis, sich da jetzt nicht zu wiederholen“, sagt Vietzke. „Wir kommen mit neuen Gefühlen ins Theater, gerade nach Corona, und gucken: Wie kann das überhaupt weitergehen? Was heißt Theater, und wie fühlt sich das für uns an?“

„Stringenz in der Neuerfindung“

Weniger „rational“ und „zerebral“ solle es werden, so Kußmann. In diesem Jahr soll es eine Inszenierung nach Tucholskys „Schloss Gripsholm“ geben, die draußen stattfinden soll, als „Wanderpicknick“, wie sie es nennt. Es sei der „Versuch eines Urlaubs in der Krise“, in den dann doch wieder Politisches hereinbricht. Eine andere Inszenierung soll „The Punch“ heißen, sie dreht sich um die Frage, wie man sich auf Schläge – bildlich und ganz konkret – vorbereiten kann. Es sei „der Versuch, über ein vorherrschendes Gefühl zu sprechen“, sagt Vietzke, ein Schlag ins Gesicht soll den Höhepunkt der Inszenierung bilden. „Das finden wir gerade ganz gut, für die Kunst was auf die Fresse zu kriegen.“ Für ihn ist das Prinzip des Theaters an der Glocksee „Stringenz in der Neuerfindung“. Kußmann sagt: „Weder haben wir einen Themenkomplex, an dem wir uns abarbeiten, noch eine Ästhetik, die immer wieder auftaucht.“

„Hannah und der Punk“

„Hannah und der Punk“. Foto: Jonas Wömpner

Bis jetzt gibt der Erfolg ihnen recht: 2020 bekam die Inszenierung „Hannah und der Punk“ den 1. Preis des Theaterfestivals Best OFF, 2021 erhielt das Theater den Theaterpreis des Bundes und war in der Retrospektive des Deutschen Theaterpreises DER FAUST vertreten. „Ich finde die Preise sehr einschüchternd“, gesteht Kußmann. „Ich arbeite gerne unter dem Radar und überrasche dann mit Dingen. Jetzt ist es so ein bisschen umgekehrt. Aber es ist auf jeden Fall auch wunderschön und streichelt das Ego. Auch, weil es eine überregionale Wahrnehmung unserer Arbeit gibt.“ Zumal das Theater an der Glocksee eben kein freies Theater ist, dessen Inszenierungen durch die Republik touren. „Wir sind Lokalgefunkel“, sagt Kußmann. Und das zu erhalten, ist nicht ganz einfach – die Ticketpreise im Theater an der Glock­see liegen nicht über 15 Euro, es gibt auch kostenlose Soli-Tickets. Ohne Förderungen ist das nicht möglich. „Es ist ja schön, dass die Honorar-Untergrenzen angehoben wurden“, sagt Kußmann. „Aber wenn die Fördermittel insgesamt nicht angepasst werden, wird das dazu führen, dass man immer weniger Vorstellungen spielen kann, weil man immer weniger Vorstellungsgagen zur Verfügung hat. Das bedeutet viel weniger Output für die Stadt und viel weniger Gesprächsstoff, was ein Theater ja liefern kann. Die Arbeit ist leider noch nicht vorbei.“

Dieser Artikel ist erschienen im Augustheft 2023.