Das erleuchtete Staatstheater Meiningen, das von Mai 2010 bis Dezember 2011 saniert wurde

Das Staatstheater Meiningen: Ein Erfolgsgeheimnis

Das Staatstheater Meiningen genießt einen exzellenten Ruf: bei den Einheimischen, aber auch bei zahl­reichen Gästen, die sogar aus Berlin oder München anreisen, um sich Aufführungen anzusehen. Intendant Jens Neundorff von Enzberg führt diese Tradition fort.

„Ich bin in eine andere Stadt zurückgekehrt“, sagt Jens Neundorff von Enzberg über Meiningen. Sein Amtsantritt als Intendant des einzigen Thüringer Staatstheaters im September 2021 hätte unter einem günstigeren Stern stehen können. Die Pandemie nagte natürlich auch an diesem Haus, der kulturelle Alltag war durcheinander.

Doch Neundorff, im thüringischen Ilmenau geboren, kannte sich zum Glück aus. Er war bereits von 1992 bis 1996 Dramaturg in Meiningen gewesen – unter dem Mann, dem man dort heute ein heiligenmäßiges Andenken bewahrt: dem 1997 bei einem Autounfall ums Leben gekommenen Ulrich Burkhardt. Meiningen ist mit seinen 24 500 Einwohnern im Landkreis Schmalkalden-Meiningen eine echte Theaterstadt. Neben Volksfesten ist vor allem das Staatstheater ein gesellschaftlicher Mittelpunkt. Das Haus gehört zu den größten lokalen Arbeitgebern und ist neben der Elisabethenburg ein Blickfang mit beachtlicher Geschichte. Ab 1870 wurde unter Herzog Georg II. in dem 1831 eröffneten spätklassizistischen Prunkstück der Meininger Theaterstil entwickelt, der für das damalige mitteleuropäische Theater zum ästhetischen Orientierungspunkt wurde. In den 1990ern etablierte sich das Haus durch geschickte politische Schachzüge zum kulturellen Eldorado und sicherte sich so seinen Bestand. Heute werben Transparente zwischen Gebäuden für Premieren. Das Theater ist überall Tagesgespräch – und gewichtiges Tourismusprogramm.

Intendant Jens Neundorff von Enzberg

Intendant Jens Neundorff von Enzberg. Foto: Christina Iberl

Seit der Pandemie indes ziehen auch Montagsspaziergänge der AfD durch die Meininger Innenstadt. Am 6. März machten etwa einhundert Teilnehmer um den Marktplatz einen bedrohlichen Eindruck, weil die Geschäftsstraßen an diesem Noch-Winterabend menschenleer waren. Kultur als Mittel gegen Spaltung – das erlebt man hier auf engem Raum. Ansonsten aber scheinen dem Theater nur die geringen Übernachtungskapazitäten Meiningens Sorgen zu bereiten. Als Neundorffs Vorgänger Ansgar Haag 2017 „Die Meistersinger von Nürnberg“ auf den Spielplan setzte, waren Hotelbetten für das Publikum wegen der vielen unterzubringenden Chor- und Orchestergäste knapp. Während der Pandemie wurde der Sächsische Hof, ein traditionsreiches Hotel in unmittelbarer Theaternähe, geschlossen. Die Stadt pachtete das Anwesen und sucht derzeit nach einem Betreiber. Eine solche Präventivmaßnahme gegen schleichenden Abbau ist nur möglich durch Bürgermeister Fabian Giesder, einen oft bei Premieren zu findenden Enthusiasten. Früher sang er im Theater-Extrachor.

Mit Substanz in die Fläche

„Ernsthafte Probleme gibt es keine“, sagt Neundorff, der als Intendant auch ehrenamtlicher Vorstand der Kulturstiftung Meiningen-Eisenach ist. Nach einigen ungläubigen Einwürfen muss man es ihm glauben: Ein Stück wie Erich Wolfgang Korngolds Oper „Die tote Stadt“ schaffte es im Herbst 2022 in dem 726-Plätze-Theater auf 80 Prozent Auslastung. In der Problem-Spielzeit 2021/22 brachte es das Haus auf über 100 000 Zuschauer. Sollte es hinter den Kulissen zu unliebsamen Ereignissen kommen, wäre das sofort Stadtgespräch. Die Menschen in Meiningen sind mit dem Theater verwachsen – dafür gibt es viele Beispiele. Als ich im Hotel Schlundhaus an der Rezeption sage, dass ich eine Aufführung von „Kabale und Liebe“ besuche, folgt sofort eine Beurteilung: „Ich mag die Kostüme nicht. Warum lässt man das Stück nicht im 18. Jahrhundert, wo es hingehört?“

Schauspieldirektor Frank Behnke hatte nach der Premiere dieser Produktion mit erbostem Publikum viel zu diskutieren. Der Intendant griff selbst zum Telefon und beschwichtigte. Dabei würden Meininger Theatergänger nur in seltenen Fällen ihr Abo kündigen, weil ihnen eine Inszenierung nicht gefällt. Das Staatstheater Meiningen steht nicht im Ruf, eine Bühne mit kalkulierten Provokationen zu sein, sondern mit substanziellen Vorstellungen, die manchmal stacheln.

Ein solcher Ruf bewirkt zum Beispiel, dass Schulen statt in das ihrem Standort wesentlich näher gelegene Weimar nach Meiningen fahren, wo ihnen gezielt auch Stücke wie Julia Prechsls Inszenierung von „Kabale und Liebe“ angeboten werden. Bei einer solchen Schulvorstellung im Rahmen eines Kulturtags für höhere Klassen wurde es dabei nur am Ende leicht unruhig, als ein Protestaufruf gegen Femizide, also Frauenmorde, verlesen wurde. In Prechsls Inszenierung stirbt nur Luise. Ihr adeliger Liebhaber Ferdinand nimmt kein Gift, was so nicht bei Schiller steht, aber die Frage aufwirft, inwieweit Ferdinand für den Tod Luises verantwortlich ist. Auch weil der Intrigant Wurm mit einer Frau besetzt ist, kommt es zu packend geschärften – und stellenweise auch plakativen – Momenten. Schade, dass die Regisseurin nicht der Kraft ihrer Neudeutung vertraute und den Ausgangspunkt von Schillers Stück durch ihre Schlussrede verlässt.

So wie das Publikum stellenweise aus Berlin und München kommt, zeigen sich Akzeptanz und Erfolg des Meininger Staatstheaters auch durch dessen regelmäßige Gastspiele in Ingolstadt, Fulda, Heilbronn und Aschaffenburg. Während der Renovierungszeit des Theaters Schweinfurt kommen von dort Busse mit Theatergängern. Das Angebot mit hoher Akzeptanzgarantie entsteht auch aus Neundorffs Einstellung, dass Theater generell ein politisches Agens ist und nicht erst durch ein explizites Konzept dazu gemacht werden muss. So geriet unvermutet eine Entdeckung in die Diskussion. Weil die Produktion von Georges Bizets Oper „Ivan IV“ aufgrund der pandemischen Einschränkungen vom Beginn der Intendanz Neundorffs in seine zweite Spielzeit verschoben wurde, fiel die Premiere auf den 24. Fe­bruar 2023, den ersten Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine (zu unserer Premierenkritik geht es hier). Analogien von Situationen aus dem Textbuch von François-Hippolyte Léroy und Henry Trianon zum Verhalten der russischen Führungsspitze lassen sich allenfalls oberflächlich herstellen. Trotzdem kam die Frage auf, ob ein Werk mit russischem Sujet auf dem Spielplan derzeit angemessen ist. Regisseur Hinrich Horstkotte jedenfalls sah offenbar zum Schluss der Oper eine Positionierung vonnöten: Bei einem kurzen Vorhang zwischen Ende und Applaus war der Zar mit einer Ukraine­flagge zu sehen.

Opulente Opernausgrabungen wie „Ivan IV“ und „Santa Chiara“, der bis in die 1920er-Jahre in Thüringen und anderen Orten gespielten Oper von Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha, kommen beim regionalen und überregionalen Publikum gut an. Dabei wurde Musiktheater erst um 2000 zur öffentlich wirksameren Sparte des Meininger Staatstheaters, als die damalige Intendantin Christine Mielitz mit dem damals in die Weltkarriere aufbrechenden Kirill Petrenko Wagners Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“ an jeweils vier aufeinanderfolgenden Abenden herausbrachte.

Kommunikativ, kritisch, solidarisch

Seit der Spielzeit 2021/22 ist Frank Behnke Schauspieldirektor, der nach Spartendirektionen in Nürnberg und in Münster auch in Meiningen keinen Unterschied der Spielplangestaltung für urbane und ländliche Räume macht. Der Zuspruch des Publikums bestätigt Behnke in seinem Vorhaben, jede Spielzeit einen Stückauftrag für die Kammerspiele zu vergeben. Neben zahlreichen Kurzkontakten im Alltag freut ihn insbesondere die hohe Beteiligung der Meininger an Nachgesprächen. „Ich mache mich frei von Themenzwängen“, sagt Behnke. Er nennt neben der Klassikerpflege und seinem persönlichen Wunsch nach vielen Gegenwartsstücken die Wiedervereinigung von 1989/90 als wichtigen Themenakzent. Nahezu programmatisch für die Meininger Angebote wird der Beginn von Behnkes dritter Spielzeit im September 2023 geraten mit Shakespeares „Hamlet“, inszeniert von Andreas Kriegenburg, sowie der Uraufführung von „Asyl im Paradies“ über die 1996 verstorbene DDR-Rocksängerin Tamara Danz.

Yannick Fischer in "Hamlet" (Regie: Andreas Kriegenburg)

Yannick Fischer in „Hamlet“ (Regie: Andreas Kriegenburg). Foto: Christina Iberl

Alte neue Schule ist Meiningen auch darin, dass PR und Marketing überwiegend in der physischen Realität und weniger im Internet Wirkungen zeigen. Hier ist der gedruckte Monatsspielplan noch immer der wichtigste Werbeträger. Clara Fischer, die mit Neundorff von Regensburg ins Werratal wechselte, staunte zu Beginn über das engmaschige Verteilungssystem von Plakaten in der Theaterstadt und ein Verteilersystem, das Informationen in die kleinen Dörfer des Werratals bringt. Die Mischung aus Theaterreisenden von außerhalb und lokalen Enthusiasten ist es, die dem Meininger Staatstheater die Auszeichnung „Publikum des Jahres 2022“ durch das Klassikmagazin concerti einbrachte. Kommunikativ, kritisch und solidarisch – dieser Theaterkosmos bleibt auch während der gegenwärtigen Krisen intakt.

Dieser Artikel ist erschienen im Maiheft 2023. Kritiken der DEUTSCHEN BÜHNE zu aktuellen Inszenierungen am Staatstheater Meiningen finden Sie hier.