Lohnt sich heute das Einspielen fürs Orchester?

Krisentagebuch 42: Last-Minute-Theater*

*Triggerwarnung: Glosse! Nicht geeignet für Sarkusmusverweigernde und Menschen in Quarantäne!
Willkommen, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Zuschauer:innen, zu einer neuen Runde „Theater oder nicht?“! Seien Sie dabei, spüren Sie den gemeinsamen Nervenkitzel, zittern Sie mit: Bundesweit können Sie heute wieder dabei sein – oder auch nicht. Denn genau darum geht es bei diesem kurzweiligen Vergnügen. Sie sind gesund oder genesen, freuen sich auf einen Theaterabend, der nicht im Vorfeld wegen Erkrankungen gestrichen wurde und nehmen, brav maskiert, im Zuschauerraum Platz… Vielleicht haben Sie sogar bereits ihr Smartphone ausgestellt, dann steigt die Spannung, kann die Vorstellung wirklich stattfinden? Oder wird sie vielleicht Minuten vor ihrem geplanten Beginn wieder abgesagt, so wie gerade in der Deutschen Oper in Berlin?

Rund 900 Zuschauer:innen hatten dort eine Aufführung von Ersan Mondtags „Antichrist“-Inszenierung sehen wollen, doch aufgrund „unklarer Testergebnisse“ musste Operndirektor Christoph Seuferle gerade einmal drei Minuten vorher alle wieder verabschieden. Wäre das nicht etwas für Sie? Immerhin, je nach landesaktueller Hygieneverordnung und persönlichem Impf- bzw. Teststatus ist es Ihnen anschließend möglich, sich in der Theatergastronomie bei Sekt oder Selters vom abfallenden Adrenalinpegel zu erholen. Vorbei die Zeiten, in denen die Kunst zu Ausrufen der Wut und Empörung im Publikum führte oder Zuschauer:innen im Foyer erhitzt über eine Regiearbeit diskutierten – Last-Minute-Theater heißt das neue Zauberwort! Überlastete Labore und die Omikron-Welle machen’s möglich. Danken Sie auch Ihren freiwillig ungeimpften Mitmenschen!

Herrlich außerdem der verbindende Charakter dieses Spiels, das Theatermitarbeitende und Kritiker:innen nicht außen vor lässt: Sie sind es als Darsteller:in leid, sich in gewohnter Manier in die Garderobe zu begeben in sicherer Erwartung einer beginnenden Vorstellung? Das übliche Lampenfieber ist Ihnen nicht genug? Dann kommen Sie jetzt voll auf Ihre Kosten, und das gemeinsam mit Ihren Kolleg:innen zum Beispiel aus dem Orchester („Lohnt sich das Einspielen im Orchestergraben heute oder nicht?“) oder auch der Verwaltung („Ergeben sich gleich hunderte weitere Tickets zur Umbuchung oder nicht?“). Als Angestellte(r) des Vorderhauspersonals oder Hiobsbotschaften verkündende(r) Intendant:in können Sie jetzt in der Rolle als Moderator:in, Diplomat:in oder Seelsorger:in neue Einsichten gewinnen.

Und nicht zuletzt der Thrill für alle Kritiker:innen. Besonders aufregend wird es für jene unter uns, die für einen Theaterbesuch von weiter weg anreisen: Selbst Fahrten mit der Deutschen Bummelbahn bekommen nun ihren ganz eigenen Reiz. In diesem Sinne: Bewahren Sie die Nerven! Toi toi toi.