
Von Schimmelreiter bis Waschmaschine
Foto: Linda Ghandour im „Schimmelreiter”, Inszenierung: Jos van Kan © Dorit Günter Text:Ute Grundmann, am 15. Mai 2022
Kultur hat es schwer in Eisenach. Umso wichtiger findet es die Hamburgerin Jule Kracht als neue Leiterin, dem Jungen Schauspiel ein innovatives und ästhetisch vielfältiges Gesicht zu geben.
Was, das gibt es noch?!“ Diese Frage haben Jule Kracht und ihr Chefdramaturg Christoph Macha mehr als einmal gehört, seit sie in Eisenach sind. Beide wollen in der Wartburg-Stadt ein Junges Schauspiel am Landestheater aufbauen. Aber – so ihr Eindruck – sie müssen den Bewohnern wieder neu klarmachen, dass das Theater ihr Ort sein soll und sein kann. Das gilt insbesondere für die jüngeren Besucher, die hier oft zum ersten Mal den Zauber der Bühnenkunst erleben können. Und denen will Jule Kracht alles präsentieren, was das Theater zu bieten hat: Puppen- und Objektspiel, Sprech- und Musiktheater, Tanz und Bewegungsformen. „Ich habe hier die Chance, viele Genres zu bedienen und zusammenzubringen“, sagt die Theatermacherin – und vielleicht lassen sich ja auch Utopien daraus basteln.
Gegen die „Sprachlastigkeit“
Nicht nur darüber will Jule Kracht mit ihren kleinen und größeren Besuchern ins Gespräch kommen. Sie will ihnen offerieren: „Musik zündet ja auch, da geht etwas auf.” Figurenspiel kann helfen gegen die „Sprachlastigkeit“ des Theaters: „Wir sind ja sehr geprägt durch die Sprache, aber das belastet auch oft.“ Bewegung und Musik seien ohnehin häufig die erste Begegnung mit dem, was Theater alles bieten kann. „Und das für unterschiedliche Altersgruppen sehr unterschiedlich zu inszenieren, das interessiert mich besonders.“ Deshalb hat sie sich, ebenso wie Christoph Macha, für einen Neuanfang in Eisenach entschieden, auch wenn beide die skeptische Frage „Thüringen – wie bitte?“ häufig gehört haben.
Jule Kracht, 1977 in Hamburg geboren, war zehn Jahre als Schauspielerin und Hausregisseurin am Jungen Nationaltheater Mannheim engagiert. Seit 2013 arbeitet sie freiberuflich, hat auch am theater junge generation in Dresden inszeniert. Von dort kommt der in Bautzen geborene Christoph Macha, seit 2014 Dramaturg am tjg. „Wir sind ein West-Ost-Team“, sagt Kracht – und ein „Das ist auch gut so“ scheint mitzuschwingen.

Chefdramaturg am Landestheater Eisenach, Christoph Macha. Foto: privat
Jenseits der Reclam-Hefte
Gleich in der ersten Spielzeit geht das neue Team die oft problematische Aufgabe an, Klassiker zu inszenieren – Stücke aus dem Schulkanon. Die sollen, jenseits der Reclam-Hefte, so auf die Bühne kommen, „dass Jugendliche sich darin erkennen und Erwachsene sehen, wie sich junge Menschen heute auseinandersetzen“. Und so ist auf der großen Bühne jeder mal Hauke Haien, die Hauptfigur aus Theodor Storms Novelle „Der Schimmelreiter“. Auf Schneiderpuppen werden die Kostüme für die jeweilige Szene herbeigeholt. Mal hat Christoph Rabeneck die edle, goldgeschmückte Pelzkappe des „Schimmelreiters“ auf, mal Lisa Störr. Ins prächtige Brautgewand der Elke Volkerts schlüpfen Alexander Beisel oder Friederike Fink, die sich wiederum mit Linda Ghandour die Rolle des alten Deichgrafen teilt. Und so kann es bei diesem Wechselspiel auch passieren, dass sich als Brautpaar zwei Männer küssen. Regisseur Jos van Kan zeigt diesen „Schimmelreiter“ Hauke Haien vor allem als Neuerer, der gegen zähe und überkommene Hierarchien aufbegehrt. Und das ist nicht erst seit Fridays for Future wirklich ein junges Thema. Dazu wird zwei Stunden lang mit viel Tempo nuanciert gespielt, der alte Text hervorragend gesprochen, gibt es ebenso viel zu sehen wie nachzudenken. Zudem hat Christoph Macha bei der Internetrecherche nach einer Verbindung zwischen dem Dichter aus Husum und Thüringen die Storm-Gesellschaft in Heilbad Heiligenstadt im Eichsfeld gefunden, die jetzt die Produktion unterstützt.
Akribisch hat sich das neue Leitungsteam auf das Landestheater und seine Stadt vorbereitet. Seit 1990 wurde hier viel Kultur „kaputtgespart“, Ballett und Oper aufgelöst und das Orchester mit Gotha fusioniert. Ein Junges Schauspiel blieb zwar erhalten, aber die Leitungen wechselten häufig. Es gab kaum Kontinuität. „Wir suchen einen anderen Weg, aber dazu braucht es mehr Geld und Vermittlung, daran wird nicht gedacht“, sagt Jule Kracht. Auch in Meiningen – der Staatstheater-Intendant Jens Neundorff von Enzberg ist auch für Eisenach verantwortlich – baut man ein Junges Theater auf. Man tauscht sich natürlich aus, „aber die haben alles, Schauspiel, Musiktheater, Ballett, ein Orchester…“ entgegnet Kracht, mehr Feststellung als Klage. Immerhin haben die Theatermacher die Unterstützung der Eisenacher Oberbürgermeisterin Katja Wolf, die sich jede neue Inszenierung ansieht, nicht als „VIP“ in der Premiere, immer später, als „normale“ Zuschauerin.
Wiederbelebte Sparte
Das Klima in der Stadt ist nicht einfach. „In Eisenach macht Neues Angst“, zwei Drittel der Einwohner habe Arbeitslosigkeit erlebt, das sitze immer noch tief. Auch deshalb habe man nach dem Aus für die Wartburg-Fabrikation so um Opel gerungen, erzählt Macha, aber es seien nur 1000 Mitarbeiter eingestellt worden, „junge Männer ohne Familie“. Und dann sind da die erschreckend hohen Wahlergebnisse für die AfD und der Probenraum des Theaters, der sich gleich neben einem NPD-Haus befindet. „Das wird spannend, ich stelle mich auf was ein“ sagt Jule Kracht. „Wir werden uns unseren Raum nehmen, präsent sein.“
Andererseits, bei allem Überbau, aller Theorie und Expertisen: „Ich habe nichts gegen Spaß“, lacht die Leiterin des Jungen Schauspiels. So gab es schon den musikalischen Abend „Wann, wenn nicht jetzt!“ mit Liedern von Gerhard Gundermann, Rio Reiser, Gerhard Schöne. Und für Zuschauer ab zwei Jahren wird Esther Jurkiewicz die Schwerkraft auf die Bühne bringen: mit der Uraufführung „In der Schwebe“.
Vieles soll in der wiederbelebten Sparte möglich sein, nur kein Mainstream, keine bloße Kinderbespaßung. Stattdessen will man Fragen anders stellen – und vielleicht andere Antworten finden. Und bei aller theaterpädagogischen Begleitung und Fundierung der Inszenierungen will Kracht, wie bei Storms „Schimmelreiter“, Themen und Theaterstücke „nicht groß diskutieren, aber hinstellen“. Ein kleines Zugeständnis an heutige Zeiten hat man allerdings doch gemacht: Zum Theater und zu jedem einzelnen Stück gibt es einen Hashtag, also #LTEisenachschimmelreiter oder #LTEisenachcabaret. Denn Jule Kracht inszeniert hier tatsächlich „Cabaret“. Welche Fragen sie an das berühmte Musical hat, wird man bei der Premiere im Juli sehen.

In David Williams’ Bewegungstheater „Kleider, Kleider, Kleider“ lassen die Schauspieler Ole Riebesell und Christoph Rabeneck Kleidungsstücke zu Alltagsgefährten werden. Dramaturgie: Jule Kracht. Foto: Sebastian Brummer
Bewegungskunst als Türöffner
Jule Kracht leitet das Theater, inszeniert, ist aber auch als Dramaturgin tätig, etwa bei der Bewegungstheaterproduktion „Kleider, Kleider, Kleider“ von David Williams. „Da habe ich alles reingepackt“ Drei Waschmaschinen mit wasserblauen Scheiben stehen auf der Hinterbühne, das typische Rumpeln gibt es dazu. Dann sind die Bullaugen der Maschinen offen, Füße strecken sich raus, verheddern, sortieren sich. Schließlich schlängeln sich Christoph Rabeneck und Ole Riebesell (beide waren auch im „Schimmelreiter“ dabei) auf die kahle Bühne, zittern, zappeln zu Klaviertropfen. In den kommenden 50 Minuten erkunden sie, was man mit Stoff, Hosen, Pullis alles machen kann oder lieber bleiben lassen sollte. Die jungen Besucher mögen sich an den eigenen Kleiderschrank erinnert fühlen, an das nervende Einüben, richtig in einen Hemdärmel zu finden. Oder sie haben einfach Spaß an einem schwankenden Klamottenturm, sich heillos verheddernden Wäscheleinen. Obwohl das Ende mit Aufräumen und Aufrollen dann eher pädagogisch als poetisch wirkt, macht diese Stoff-Erkundung Spaß – vor allem wegen der beiden Tänzer-Schauspieler in ihren beigefarbenen Ganzkörperanzügen. Solche Bewegungskunst könnte einer der Türöffner sein, die sich Jule Kracht für das Junge Schauspiel am Landestheater Eisenach wünscht.
Zwar habe man den ersten Spielplan „auf Vermutungen aufbauen“ müssen, so Christoph Macha, bisher hat das aber gut funktioniert. Und das trotz wechselnder Coronaeinschränkungen, auf die Schulen zum Teil mit sehr kurzfristigen Absagen des Theaterbesuchs reagierten. Ein Brand im Theater verkomplizierte die Situation weiter. Gegen all das hat man auf „richtiges Klinkenputzen“, auf viele Gespräche mit Lehrern und Erziehern gesetzt. Jule Kracht stellt sich ihr Junges Schauspiel gerne als Mehrgenerationenhaus vor: „Wir denken für unser junges Publikum – laden aber auch die Erwachsenen ein.“
Dieser Artikel ist erschienen in Heft Nr. 5/2022.