Klarer Sieger unter Originelles Format im Lockdown: Die VR-Brillen-Produktionen des Theaters Augsburg

Saisonbilanz 2020/21

Die Ergebnisse unserer Autorenumfrage: von München als digitaler Theaterhauptstadt über VR-Brillen-Theater aus Augsburg bis zu einem Post-Drama aus Mannheim

aus Heft 08/2021 zum Schwerpunkt »Saisonbilanz 2020/21«

Die Ergebnisse unserer Autorenumfrage: von München als digitaler Theaterhauptstadt über VR-Brillen-Theater aus Augsburg bis zu einem Post-Drama aus Mannheim

Wir hatten uns schon darauf eingestellt, dass wir es in der Auswertung dieser neu formatierten Umfrage 2020/21 mit einem sehr breiten und sehr diffusen Ergebnisfeld zu tun bekommen. Das hat sich aber keineswegs bewahrheitet: Die Ergebnisse in den diesmal neun Kategorien sind überwiegend erstaunlich klar. Die Tatsache, dass Streams überall gesehen werden können, mag dazu geführt haben, dass sich die Stimmen diesmal stärker akkumuliert haben. Aber das spricht natürlich auch für die Neugier unserer Autorinnen und Autoren, die offenbar überwiegend Lust aufs Digitale hatten – sei es in Ermangelung andere theatraler Erlebnisse, sei es aus genuinem Interesse an neuen Theaterformen.

1  Gesamtleistung: Bayerische Staatsoper

Hier steht mit sieben Nennungen plus drei weiteren unter Genuin digitale Produktion und Originelles Format im Lockdown die Bayerische Staatsoper in München unangefochten an der Spitze. Sie begeistert keineswegs nur die Melomanen – unsere Schauspielkritikerin Anne Fritsch schreibt: „Die Bayerische Staatsoper in München hatte sicher einen Vorteil gegenüber anderen Häusern: Sie war bereits vor der Pandemie erfahren in Sachen Livestreaming und Streams on demand. Trotzdem ist es bemerkenswert, wie flexibel das riesige Haus auf die verschiedenen Verordnungen und Vorgaben zu erlaubter Publikumszahl, Präsenzbetrieb und Lockdowns reagierte, früh eigens produzierte neue Onlineformate herausbrachte, an einem klinisch begleiteten Pilotprojekt teilnahm und baldmöglichst wieder in den Live­betrieb zurückkehrte.“ Opernfachmann Joachim Lange aus Halle ergänzt: „Die Bayerische Staatsoper München hat ihre Verantwortung als großes deutsches Haus mit Anspruch und ambitioniert wahrgenommen. Das gilt für die der Krise abgerungenen Premieren (,Vögel‘, ,Freischütz‘, ,Rosenkavalier‘, ,Lear‘), die herausgebracht und im Stream zugänglich gemacht wurden. Aber auch für eine Reihe von speziell als Stream gedachten Angeboten.“

Auf Platz 2 folgen mit vier Voten in dieser und vier weiteren in drei anderen Kategorien die Münchner Kammerspiele, über die unsere Kieler Mitarbeiterin Ruth Bender schreibt: „Das Haus hat die Pandemiezeit als vielfältiges digitales Forschungsfeld genutzt. Es hat neue Gesprächsformate erfunden wie ,Habibi Kiosk‘, im Blog ,Am Boden‘ Theater und bildende Kunst vereint, eifrig gestreamt und mit all dem auch die sozialen Medien bespielt. Manchmal war das fast zu viel Präsenz – aber immer am Puls der Zeit und nimmermüde im Versuch, das Theater als Wirklichkeitserkundung im Spiel zu halten.“ Wenn man dann noch sieht, dass auf Platz 3 das Gärtnerplatztheater mit drei Stimmen plus einer unter Haus mit begrenzten Ressourcen (nun ja, immerhin ein Bayerisches Staatstheater …) folgt, kann man mit Fug und Recht sagen: München war in der Theatersaison 2020/21 die digitale Hauptstadt Deutschlands – die theatrale Verwirklichung von Laptop und Lederhose sozusagen. Wer hätte gedacht, dass Corona das hinbekommt! Daran müsste sogar Markus Söder, bislang nicht unbedingt als glühender Liebhaber der zeitgenössischen Bühnenkunst hervorgetreten, doch eigentlich seine Freude haben, oder?

Aber noch zwei Häuser müssen unter Gesamtleistung erwähnt werden, die hier zwar jeweils nur zwei Stimmen bekommen, insgesamt aber mit sieben Stimmen in unterschiedlichen Kategorien präsent sind: das Schauspiel Zürich und das Schauspiel Köln, Letzteres unter anderem mit einer Tanzproduktion, „All for one and one for the money“ von Richard Siegal und seinem Ballet of Diffe­rence in der Videoregie von Matthias Singer (zwei Stimmen) und der Webserie „Edward II. – Die Liebe bin ich“ in der Regie von Pınar Karabulut. Auch das darf man rechtens bemerkenswerte Gesamtleistungen nennen!

2  Haus mit begrenzten Ressourcen: Theater Oberhausen, FITZ! Stuttgart, Neubrandenburg/Neustrelitz

Hier können wir uns kurz fassen. Für drei Theater gibt es je zwei Stimmen: für das Theater Oberhausen (Michael Laages: „… weil es in der kurzen Öffnungszeit noch im Oktober das Schlingensief-Festival platzierte und darin das Projekt ,Sterben in Oberhausen‘ von Saskia Kaufmann und Raban Witt; danach, im Lockdown, sind in diesem kleinen, energischen Haus herausragende Livestream-Produktionen entstanden …“); für das FITZ! Stuttgart (Petra Mostbacher-Dix über Eva Baumanns „Schattenkind“: „… bewegendes multimediales Tanztheater mit körpergroßer Puppe; ein unter die Haut gehendes Psychogramm über mütterliche Gewalt, zunächst live geplant, dann gefilmt, live gestreamt mit Live-Onlinediskussionen“) und für die Theater Orchester GmbH Neubrandenburg/Neustrelitz (Georg Kasch: Die TOG „hat mit Tatjana Reses Antike-Baukasten ihr Schauspielensemble sichtbar gemacht, mit ihrem Audiowalk durch Neubrandenburg das Publikum eingebunden und mit dem ,Wellerman‘-Video nicht nur gezeigt, dass sie Netzphänomene wahrnimmt, sondern auch, dass die Musiker*innen des Hauses Humor haben“.

Das ist für die drei Häuser erfreulich und auch hochverdient, aber es ist vor dem Hintergrund eines breiten Feldes von inter­essant begründeten Einzelvoten ein eher flaches Siegerpodest.

3  Videoregie: Jan Speckenbach

In dieser Kategorie landen wir gleich beim Spitzenreiter mitten in der bereits im Einleitungstext gestellten Frage, in welchem Verhältnis bei einer per Stream veröffentlichten Theaterproduktion die analoge Bühnengestaltung und die digitale Filmgestaltung zueinander stehen. Die Produk­tion, die hier mit sechs Stimmen klar in Führung geht, ist Sebastian Hartmanns „Zauberberg“-Inszenierung am Deutschen Theater Berlin in der Bildregie von Jan Speckenbach. Dazu schreibt Sophie Diesselhorst: „… eine toll zwischen der aufwendigen Erzeugung dichter Atmosphären und improvisierten Livemomenten changierende Regiearbeit, diese innere Spannung noch kunstvoll verstärkt von der virtuosen Bildregie im Livestream.“ Und Antonia Ruhl lobt den „Regisseur und Bühnenbildner Sebastian Hartmann für seine spannenden hybriden Bühneninszenierungen am Deutschen Theater Berlin (,Der Zauberberg‘, ,Lear‘), die live filmische Elemente hervorbringen und gleichzeitig die Einzigartigkeit des Theaters – die analoge Zusammenkunft – betonen und vermissen lassen“. Beide Voten also bringen entweder explizit (Diesselhorst) oder implizit (Ruhl) das gleichsam symbiotische Verhältnis von Bühnen- und Videoregie zum Ausdruck, ohne das ein gelungener Stream undenkbar wäre.

Das genaue Zustandekommen dieser Symbiose wirft spannende Fragen auf: Beruht sie darauf, dass sich der Videoregisseur kongenial auf die Bühnenästhetik eingelassen hat? Hat er diese womöglich sogar aufgewertet? Oder hat, umgekehrt, der Bühnenregisseur die Ressourcen der digitalen Videoregie geschickt antizipiert, sie sogar gezielt bedient? Hat er womöglich ausschließlich für Video inszeniert, weil Zuschauer nie eingeplant waren? Jedenfalls wird das Genre Theaterstream nicht nur die Videofilmer, sondern auch die Bühnenregisseure mit neuen Herausforderungen konfrontieren. Für die Zuschauer öffnet sich damit ein neues, weites Feld der Reflexion – vor allem aber auch für uns professionelle Beobachter! Dem sollten wir uns nicht verweigern. Auch uns wird das postpandemische Theater, ebenso wie den Künstlern und den Häusern, neue Kompetenzen abverlangen.

Auf Platz 2 landet mit drei Stimmen und einer weiteren unter Genuin digitale Produktion eine Inszenierung von Lorenzo Fioroni. Klaus Kalchschmid aus München nennt exakt diejenigen, denen in dieser Kategorie das Lob gebührt: „klangmalerei.tv und der Videodesigner Christian Weissenberger für den ebenso präzisen wie phantasievollen Stream aus dem Nationaltheater Mannheim von ,Hippolyte et Aricie‘ in der Regie von Lorenzo Fioroni; Bühne: Paul Zoller, Loriana Casagrande.“ Und auch der Name Christopher Rüping taucht hier dreimal auf, allerdings mit zwei verschiedenen Produktionen, „PARADIES: fluten / hungern / spielen“ am Thalia Theater Hamburg und „Einfach das Ende der Welt“ am Schauspielhaus Zürich, letztere dort zunächst live gezeigt, später aber gestreamt und von unseren Autoren dann auch als Streamproduktion gewertet. Dass die Transformation also offenbar bruchlos gelang, hat möglicherweise einen besonderen Grund, denn Rüping repräsentiert den Sonderfall eines Theaterregisseurs, der zugleich die Videoregie übernimmt. Was Bettina Schulte ausdrücklich würdigt, während Thilo Sauer vermerkt: „Die extrem subjektive und eingebundene Kameraführung stellte überraschend viel Nähe her.“

Ein lesenswertes Beispiel, wie man als Kritiker die beiden Gestaltungsebenen einer Streamproduktion reflektiert zueinander in Beziehung setzt, wenn sie eben nicht aus einer Hand kommen, aber trotzdem perfekt Hand in Hand gehen, bietet Georg Kasch mit seinem Votum für Kirill Serebrennikov und das ORF-Team um Martin Traxl bei der Realisierung des „Parsifal“-Streams aus der Wiener Staatsoper (eine von mehreren Produktionen in dieser Kategorie mit zwei Voten): „Serebrennikovs Wiener ,Parsifal‘-Inszenierung ist ein Meilenstein der Wagner-Deutung, äußerst überzeugend neu gelesen und mit Elina Garanˇca, Georg Zeppenfeld und Jonas Kaufmann großartig besetzt. Wie aber kriegt man diese augenweitende Bilder- und Zeichenflut in einen Mitschnitt? Der ORF hat einen fahrbaren Kran und ein halbes Dutzend Kameraleute mitgebracht, um die Tiefe der Bühne ebenso zu erfassen wie die vielen darstellerischen Details, unabhängig von den gerade Singenden. Mit genauen Einstellungen und klugen Schnitten integriert das ORF-Team auch Serebrennikovs schwarz-weißen Bewegtbildkommentar über der Bühne in die Erzählung: Zum Raum wird hier die Zeit.“

4  Genuin digitale Produktion: „werther.live“

Hier sollten die Verhältnisse einigermaßen klar sein; denn es geht um Produktionen, die nicht auf eine analoge szenische Inszenierung zurückgehen, sondern von vornherein als digitales Produkt geplant waren. Die Frage nach der Verbindung zum Theater führt allerdings auch hier zu spannenden Konstellationen. Theoretisch könnte diese Verbindung ja sogar völlig aufgelöst werden. Dass das praktisch nur selten geschieht, wenn Theatermacher am Werk sind, liegt auf der Hand – bestätigt aber möglicherweise auch, dass der Reiz des digitalen Theaters in dessen hybrider Struktur liegt. Wobei die Theaterreferenz sich auf ganz verschiedenen Ebenen manifestieren kann: im zugrunde liegenden Stoff, in den eingesetzten Ressourcen (Bühnenschauspieler, materielle Bühnenbilder), in der ästhetischen Struktur (Dialoge, dramatische Verdichtung).

Ausgerechnet die Siegerproduktion, „werther.live“ vom Kollektiv punktlive um die Regisseurin Cosmea Spelleken, mit acht Voten (plus zwei in anderen Kategorien) klar an der Spitze, ist bemerkenswert selbstständig unterwegs. Ruth Bender: „Die Produktion übersetzt Goethes klassischen Stoff nicht nur in die unmittelbare Gegenwart, lässt Lotte und Werther über Skype kom­munizieren und findet im digitalen Raum auch eine verblüffend direkte Entsprechung für die Form des Romans. Sie nutzt die sozialen Medien als Instrument, das die Geschichte der beiden überhaupt erst möglich macht.“ Und doch bleibt sie für Sophie Vondung „mit ihrem Storytelling per Bildschirmübertragung“ eine innovative Theaterform, die „mühelos den Spagat zwischen der Welt von Goethe und dem jungen Pu­blikum heute“ überbrückt. Der Hinweis auf das Storytelling lässt den Grund ahnen: Die Verdichtung der Konflikte und Beziehungen wird offenbar eben theatral wahrgenommen. Auch Antonia Ruhl hat daran keinen Zweifel und sieht sogar ein formbildendes Potenzial: „Ein Format ist es noch nicht, es könnte (und sollte) aber eins werden … Ein wichtiger Beitrag, der die spezifische Partizipation und Kopräsenz des analogen Theaters in den digitalen Raum verlagert und vor allem (aber nicht nur) Kinder und Jugendliche adressiert.“

Die hier mit zwei Voten zweitplatzierten Produktionen dagegen, etwa die Serie „Edward II. – Die Liebe bin ich“ in der Regie von Pınar Karabulut am Schauspiel Köln (zusätzlich auch einmal unter Format im Lockdown genannt) oder „Weiße Rose“ in der Regie von David Bösch, Animation: Patrick Bannwart und Falko Herold, an der Staatsoper Hamburg, stellen den Theaterbezug durch Personal und Stoff ziemlich eindeutig her. Wobei der Animationsfilm über die Geschwister Scholl schon eine sehr eigenständige Ästhetik schafft, über Udo Zimmermanns Komposition aber dennoch klar der Oper verpflichtet bleibt.

5  Originelles Format im Lockdown: VR-Brillen-Theater aus Augsburg

Hier ergab sich eine besonders schöne Konstellation. Auf Platz 1 kommen mit vier Stimmen „die VR-Brillen-Produktionen“ des Staatstheaters Augsburg. Und allein schon diese kollektive Nennung belegt, dass dem Theater damit die Etablierung eines eigenen, genuin digitalen Theaterformats (aus dieser Kategorie kommen auch zwei Zusatzstimmen) gelungen ist. Eine beachtliche Leistung! Ruth Bender schreibt: „Das Theater Augsburg hat einige Produktionen für VR-Brillen entwickelt, die im Paket ans Publikum verschickt werden. Auf einmal befindet man sich als Zuschauerin mit den Spielenden in einem Raum, zwischen ihnen und kann sich im Raum umschauen. Auch wenn die 360°-Perspektive durchaus ein wenig seekrank machen kann, ist das ein völlig neues Theater- und Raumerlebnis.“

Auf Platz 2 aber landet (freilich mit nur zwei Stimmen, aber die Reichweite ist hier halt auch sehr begrenzt) eine Produktion, die auf extrem kreative Weise artifiziell, altmodisch und analog ist: „Cecils Briefwechsel. Ein Post-Drama“ vom Nationaltheater Mannheim in der Regie von Sapir Heller, Lena Wontorra und Ensemble. Leider haben wir zu den Voten keine Begründungen bekommen. Aber im Blog auf unserer Homepage hat An­dreas Falentin eindrücklich geschildert, wie dieses auf Kleist basierende „Post-Theater“ funktioniert, bei dem die Teilnehmer per Brief animiert werden, sich auf dem eigenen Schreibtisch mit alltäglichen Requisiten ihr Theater der Dinge selbst zu inszenieren – ein schöner Beleg dafür, dass der Weg aus der Pandemie nicht digital sein muss. Dass ausgerechnet diese Produktion dann doch eine dritte Nennung unter Genuin digital bekommt – das ist die Ironie der Briefwahl.

6  Online-Performer: Igor Levit, Benjamin Lillie

Die Ergebnisse in dieser Kategorie fallen erkennbar aus dem Rahmen. Dass sich aus so einem breiten Feld von Einzelnennungen mit Igor Levit und seinem Format der Hauskonzerte ein Pianist (okay: pandemisch-postmodern erweiterter Theaterbegriff) und mit Benjamin Lillie ein Schauspieler durchsetzt, der bei der Premiere von „Einfach das Ende der Welt“ am Schauspiel Zürich zwar mit einer Videokamera hantierte, das aber eben leibhaftig auf der Bühne tat (erst später wurde Christopher Rüpings Inszenierung ge­streamt, mehr unter Frage 4) – das ist, sagen wir: etwas heterodox.

Sehr hübsch sind die Antworten von Roland H. Dippel („Antwort verweigert: Ich will kompetente Bühnendarsteller*innen und keine digitalen oder sonstigen Starlets, Showmaster & Co“) und Jörn Florian Fuchs („Professor Karl Wilhelm Lauterbach – ein Gesamtkunstwerk(er)“). Da offenbart sich vielleicht doch ein gewisses Fremdeln mit der digitalen Kunstform und ihren Kategorien und Maßstäben, das sich mitunter selbst da zeigt, wo diese ausdrücklich begrüßt wird.

Wenn man auf die übrigen Kategorien schaut, finden sich nämlich schon Kandidaten, die infrage kämen. Ruth Bender beispielsweise nennt hier „das Kollektiv von ,werther.live‘ um Regisseurin Cosmea Spelleken“, das unter Genuin digital so erfolgreich war. Sophie Diesselhorst votiert für Gro Swantje Kohlhof mit ihrer bis in die aktuelle Saison hereinreichenden „Harry Potter“-Serie. Und wenn man im Querschnitt auf die übrigen Kategorien schaut, trifft man beispielsweise auf Anne Lenk. Diese Bühnenregisseurin ist natürlich keine Performerin im engeren Sinne. Aber sie war der Spiritus Rector gleich mehrerer spannender digitaler Projekte. Sophie Diesselhorst schreibt: „Die Webserie ,Zeitfuer­einander.com‘ von Anne Lenk, Camill Jammal und Mitstreiter*innen ist im Frühsommer des ersten Lockdowns von unser aller Grundsituation des isolierten Zuhausesitzens und sehnsüchtig In-Zoom-Kacheln-Starrens ausgegangen und hat mit ihrem Speeddatingformat und einem wunderbaren, theaterübergreifenden Ensemble dann aus dem Stegreif einen spielerischen, überaus unterhaltsamen Umgang mit dieser Grundsituation gefunden.“ Wolfgang Reitz­ammer hebt unter Videoregie die Schauspielerin Ulrike Arnold in der Rolle der Phaedra im gleichnamigen Stück von Jean Racine hervor, gestreamt vom Staatstheater Nürnberg, Regie: Anne Lenk. Und Wilhelm Triebold macht uns in derselben Kategorie auf „Anne Lenks ,Maria Stuart‘ mit video-affinem Bühnenbild von Judith Oswald“ am Deutschen Theater Berlin aufmerksam. Man sieht: Auch hier gehen die Kategorien ein bisschen durcheinander. Aber der Name Anne Lenk taucht immer wieder auf.

7  Erkenntnis aus der Krise: Digitales Theater muss sein!

Unter dieser Frage bricht sich nun die Reflexion über das Für und Wider des digitalen Theaters auf breiter Front Bahn – fast alle bereits in der Einleitung zitierten Autorentexte stammen aus dieser Kategorie. Aber durchaus nicht alle Autoren sind begeistert. Andreas Berger ist beispielsweise überzeugt: „Die Zukunft ist NICHT digital! Die Sehnsucht der Zuschauer, und vor allem auch der jungen, die eh lange genug vor Homeschooling- und Gaming-Computern sitzen, geht zum Live-Erlebnis mit echten Menschen. So schön manches Format in der Not war, das live gespielte Theater selbst ist vielfältig genug (und darf ja alle Medien in seinem Spiel nutzen) und überrascht und fasziniert immer wieder in der Direktheit des singenden, tanzenden, spielenden Menschen. Nicht umsonst werden alle Open-Air-Formate jetzt überrannt!“ Damit spricht er für ein Feld von etwa neun Autorinnen und Autoren (die Grenzen zwischen den Gruppen sind natürlich bei solchen inhaltlichen Positionen sehr fließend), die die digitalen Theaterformen als eher nicht zukunftsträchtig, allerding meist zumindest doch für ein Nice-to-have ansehen.

Zehn Autoren dagegen sehen das digitale auf Augenhöhe mit dem analogen Theater. Florian Welle beispielsweise schreibt: „Theater findet nicht mehr nur live auf der Bühne statt, sondern im 21. Jahrhundert auch virtuell. Und zwar nicht nur als Videoprojektion auf der Bühne, sondern wirklich im Internet und virtuellen Raum. Die Erweiterung des Repertoires durch intermediale Formen sollte nicht mehr aufgegeben, sondern selbstverständlicher Bestandteil von Theatern werden. Der Zuschauer muss nicht mehr für jede Aufführung ins Theater gehen. Die Gründung eines Netzwerkes wie theaternetzwerk.digital ist Ausdruck dieses Wandels.“

Eine Mehrheit von etwa 13 Autoren aber votiert für eine Symbiose von digital und analog unter dem Primat des Letzteren. Anne Fritsch dazu: „Selbst wenn es einem Stream gelingt, die Vorgänge auf der Bühne gekonnt in eine filmische Version zu übertragen, fehlt viel, was Theater ausmacht: Theater als soziale Begegnung, die Interaktion zwischen Bühne und Publikum, die Spannung einer live stattfindenden Performance … Dennoch hat das digitale Theater Impulse gesetzt, die klug eingesetzt auch nach der Pandemie die Kunstlandschaft bereichern und hie und da die Reichweite einer Inszenierung erweitern können.“ Zu dieser Erweiterung machen die Autoren eine ganze Reihe von Vorschlägen. Roland H. Dippel, Ulrike Hartung oder Klaus Kalchschmid etwa wünschen sich ein digitales Archiv des Theaters. Unsere Münchner Autorin Vesna Mlakar sieht in den neuen digitalen Errungenschaften „eine wunderbare, sinnvolle, Grenzen sprengende Ergänzung, die es unbedingt beizubehalten, auszubauen und zu pflegen gilt“. Und eine deutliche Mehrheit sieht im digitalen Theaterraum die Chance, Barrieren abzubauen und die Reichweite des Theaters zu erhöhen.

8  Ärgernis: Die Corona-Politik, was sonst?!

Hier stürzen sich die Autoren auf das Thema, das auch in unseren Heften und Krisentagebüchern im Onlineblog breit diskutiert wurde: die zutiefst enttäuschende Inkompetenz, mit der die Politik dem notleidenden Theater in der Pandemie begegnete. Bettina Schulte formuliert dazu ein sehr persönliches Statement: „Ich kann nur sagen: Die Maßnahmen der deutschen Regierung im Hinblick auf die Kultur waren aus meiner Sicht falsch und schädlich. Vor allem der sogenannte Lockdown light war eine krasse Fehlentscheidung. Hier wurde zu undifferenziert gehandelt. Deutschland hat sich in der Krise nicht als Kulturnation erwiesen.“ 24 Statements, darunter drei aus Frage 7, gehen in diese Richtung und zeugen von einer tiefen Frustration der kritischen Theaterbeobachter über eine Politik, der weniger eine negative Einstellung gegenüber dem Theater unterstellt wird, aber sehr wohl eine fundamentale Ignoranz gegenüber dieser in einem Land wie Deutschland durchaus herausragenden Kunstform.

Die zweite, ebenfalls kritische Spitze dieser Kategorie richtet sich allerdings gegen eine Gruppe von Künstlern, die mit ihrer Aktion #allesdichtmachen für Verärgerung gesorgt haben. Anne Fritsch sei stellvertretend zitiert für die 14 Nennungen: „Die Aktion ist kein Sich-stark-Machen für die Schwächeren. Es ist kein solidarischer Akt unter Kulturschaffenden, was diese wenigen Privilegierten der Branche abgeliefert haben. Die Not der Kolleg*innen kommt nicht vor in den Videos. Es ist Hohn, der ins Leere geht und keinerlei Perspektive aufzeigt. Es ist keine Kritik an einzelnen Maßnahmen oder Beschlüssen, sondern ein unkonkretes Herumschwurbeln. Wie bei all den anderen selbst ernannten ,Coronakritikern‘ fehlt hier das Konstruktive: Wie könnte es besser laufen? Was wäre eine Alternative? Beim Anschauen der Filmchen wird eine Frage immer lauter: Warum das Ganze? Was soll das bewirken? Weiter polarisieren? Noch mehr Spaltung? Noch mehr Realitäts- und Wissenschaftsleugnung?“

9  Jenseits von Corona: Ethisch-soziale Strukturkrise an den Bühnen

Auch hier behauptet sich mit überwältigender Mehrheit ein Topthema der vergangenen Saison, das man vielleicht unter dem Oberbegriff einer ethisch-sozialen Strukturkrise des Theaters fassen sollte: die immer neuen Fälle von Machtmissbrauch, sexueller Belästigung, ethnischer Diskriminierung, Benachteiligung von Frauen und mangelnder Diversität, die das Image des Theaters nachhaltig ramponiert haben. 23 Autoren, darunter zwei unter Ärgernis, setzen sich mit diesem Thema auseinander. Hier ergibt sich ein Zusammenhang zur in der Einleitung zitierten Verunsicherung im Verhältnis von Theatern und Publikum, die immerhin sechs Autoren überwiegend unter Frage 7 feststellen. Und das wiederum führt zurück zu den Sorgen angesichts von Cancel Culture und identitätspolitischer Polarisierung, in der einige Autoren eine Bedrohung der Theaterkunst von innen sehen. So beklagt Joachim Lange „die überhitzte und mittlerweile die kreative Freiheit der Kunst auch bedrohende Debatte über diverse Empfindlichkeiten von ,Identitäts‘-Aktivisten“. Und Barbara Behrendt kritisiert knapp, aber mit wohltuender Differenziertheit, dass „die überfälligen Regeln, die das Theater als Betrieb und Arbeitsplatz braucht, von übereifrigen Diskurs-Aktivist*innen inzwischen auch zu Regeln für die Kunst auf der Bühne umgedeutet werden. Die Kunst muss amoralisch sein dürfen – ein Theaterbetrieb darf es nicht“.

Man sieht: Nicht nur die Pandemie bedroht die Bühnenkunst, sondern in den Statements unserer Autoren finden sich Beobachtungen zu einer inneren Erosion des Theaterbetriebs. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal (nämlich im Schwerpunkt Saisonvorschau im kommenden Heft) erzählt werden. Für jetzt bleibt zweierlei fest­zuhalten: unsere Freude über den Gedankenreichtum, mit dem uns unsere Autoren beschenkt haben, und unser Bedauern darüber, dass wir diesen nicht annähernd erschöpfend würdigen konnten. Aber: Fortsetzung folgt!