„Nicht nicht Reden!”

Hat das Stadttheater seine demokratische Mission verloren, weil unsere Interaktion zunehmend in sozialen Medien stattfindet? Kann es unsere zersplitterte Gesellschaft noch abbilden? Diesen und anderen Fragen gehen wir im Schwerpunkt nach.

aus Heft 02/2024 zum Schwerpunkt »Kann das Theater die Gesellschaft noch abbilden?«

Intendant Daniel Morgenroth muss sich mit der AfD im Görlitzer Stadtrat auseinandersetzen, Juliane Hendes pendelt als freie Dramaturgin zwischen verschiedenen Städten und Welten, Schauspielerin Anja Herden argumentiert aus der Bühnenperspektive – beste Voraussetzungen, um darüber zu sprechen, wo sich das Theater aktuell verortet.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Wir erleben derzeit eine aufgesplitterte Gesellschaft, die sich über die digitalen Medien in Blasen aufspaltet und wo Hass, Abgrenzung und Nichtdialog bestimmend sind. Ist das Theater in diesem gesellschaftlichen Umfeld noch DER Versammlungsraum für die Stadtgesellschaft?

Anja Herden: Wir haben beim Schauspiel Hannover im Ensemble eine Arbeitsgruppe gegründet zur Frage, wie wir als Theater auf das Treffen von Rechtsradikalen in Potsdam und die gesellschaftlichen Folgen, die Demonstrationen reagieren können. Das soll eine längerfristige Reaktion sein. Wie kann man die gute Energie der derzeitigen Demonstrationen verstetigen? Wichtig ist mir immer die Frage, was uns als Theaterleuten überhaupt zusteht. Und dass wir so nah wie möglich an die Menschen herankommen.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Juliane Hendes, Sie sind als freie Dramaturgin in verschiedenen Städten unterwegs, zuletzt in Düsseldorf und Schwerin. Wie ist Ihre Wahrnehmung?

Juliane Hendes: Die Stimmung in den Städten ist natürlich unterschiedlich, weil sich die Bevölkerung anders zusammensetzt. Die Theater sind plötzlich bemüht, Relevanz herzustellen, aber das ist immer eine Gratwanderung. Menschen können nicht nur belehrt werden, sie müssen sich gemeint, zum Dialog eingeladen fühlen!

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Mit welchem Spielplan machen Sie in Görlitz und Zittau die Theater zum Versammlungsraum der Stadtgesellschaft, Herr Morgenroth?

Daniel Morgenroth: Ein Stadttheaterspielplan ist immer die eierlegende Wollmilchsau. Wir haben nur ein oder zwei Positionen, um neue Kunst zu ­machen oder Aktuelles einzubringen. Wir versuchen aber immer etwas zu bieten, das dem Publikum für die eigene Lebenswelt relevant ist. Beispielsweise den Schauspiel-Liederabend „Straße der Besten“, mit Ostrock, voller Nos­talgie – aber nicht Ostalgie. Die Leute verbinden das mit ihren eigenen Geschichten. Im Jugendclub zeigen wir die Roman­adaption „Düsterbusch City Lights“ über ein Kaff, in dem nichts los ist. Durch den Wasserschaden des Theaters vor gut einem Jahr haben wir viel in Ausweichspielstätten gespielt, in einer ehemaligen Synagoge oder einem riesigen immersiven Projekt im ehemaligen Güterbahnhof und haben dort viel neues, junges Publikum erreicht.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Funktioniert Dramatik noch, um diese Gesellschaft abzubilden? Oder klappt das nur noch semidokumentarisch oder mit Diskussionsformaten?

Daniel Morgenroth: Es braucht beides: Recherche und das Faktische. Aber wenn wir das Theater aufs rein Dokumentarische einengen, wäre das unerträglich. Didaktisches, Plakatives macht ja keine Freude. Wir müssen die Menschen ins Theater locken. Das pflichtbewusste Bildungsbürgertum, das immer gekommen ist, stirbt uns in den nächsten 20 Jahren weg. Wenn Sie mich festnageln wollen, würde ich sagen: zwei Drittel Fantasie, ein Drittel dokumentarisch.

Juliane Hendes: Ich arbeite dokumentarisch, wenn ich Informationen und Stimmen sammle. Aber als Autorin gehe ich in die Fiktion und suche dort meinen Weg ins Thema. Für mich ist es reizvoll, mich mit Themen zu befassen, die in der Realität angebunden sind. Ich schließe mich also Herrn Morgenroth an: auf jeden Fall beides!

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Frau Herden, was stellen Sie lieber dar auf der Bühne?

Anja Herden: Man muss sich immer nach Stadt, Theater und Ensemble richten und das Thema neu angehen. Ich halte es nur für bedingt sinnvoll, mit Schauspieler:innen dokumentarisch zu arbeiten, die das nicht interessiert.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Wie sehen die zwei Drittel Fantasie im Spielplan aus, Herr Morgenroth?

Daniel Morgenroth: Ein einfacher Abend, an dem die Leute gut unterhalten sind, ist legitim. Aber idealerweise wollen wir etwas zeigen, was die Menschen berührt und sich mit ihrem Leben verbindet. Sei es emotional-privat oder politisch. Das geht sehr gut mit Klassikern. Man muss nur darauf achten, dass es nicht beim Kanon bleibt. Wir haben derzeit einen Solo-„Faust“ im Programm, mit einer großen Ernsthaftigkeit als Klassenzimmerstück. Da erfährt der Text eine große Lebendigkeit durch eine Schauspielerin, die in verschiedene Rollen schlüpft. Das ist doch das Magische am Theater! Durch einen Tisch und Stuhl Welten entstehen zu lassen fasziniert mich immer wieder.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Zum Theatertreffen ist Lina Beckmann mit ihrem Solo aus dem großen Antikenprojekt „Anthropolis“ vom Deutschen Schauspielhaus eingeladen, wo sie den Chor alleine spielt …

Anja Herden: Ich war einige Jahre lang in Wien am Volkstheater engagiert. Und in einer Podiumsdiskussion ging es um die Frage, was Volkstheater eigentlich ist. Das Wort hat ja so einen negativen Beigeschmack. Aber Lina Beckmann ist für mich eine Volksschauspielerin im allerbesten Sinne, auch weil sie eine großartige Komödiantin ist und sich viele Menschen mit ihr verbinden können. So gesehen halte ich das Volkstheater für essenziell in seiner Bedeutung

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Ist der Demonstrationswille der Bevölkerung, den wir aktuell erleben, Ausdruck von neuem Beteiligungswillen? Kann man diesen Schwung ins Theater mitnehmen?

Juliane Hendes: In den letzten Jahren hat sich da bereits sehr viel getan. Es gibt eine breite Auseinandersetzung mit Rechtsterrorismus in den Theatern, etwa mit den Anschlägen von Hanau. Theater kann aber noch mehr. Ein großes Wort: Im Grenzfall geht es um Heilsamkeit. Wie kriegt man wieder Hoffnung in die Welt?

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Herr Morgenroth, Sie müssen sich mit der AfD im Stadtrat auseinandersetzen. Hat sich Ihre Strategie da zuletzt verändert?

Daniel Morgenroth: Ich habe beschlossen, aufzuhören, mit Leuten nicht mehr zu reden; ich möchte mit allen reden. Die AfD hat in den Umfragen 35 Prozent, ich glaube aber nicht, dass wir hier 35 Prozent harte Nazis haben. Ich möchte auch die Menschen voller Unmut ins Theater holen. Und ich bin sicher, dass wir da mit unserer Uraufführung „Das beispielhafte Leben des Samuel W.“ von Lukas Rietzschel, einer Mischung aus Recherche und Fiktion, inspiriert von der Bürgermeisterwahl in Görlitz, auch in ein Gespräch kommen können. Wenn ich aber an meinem Theater plakatiere: „AfD verbieten!“, dann kommen auch die Protestwähler nicht mehr. Natürlich hat unser Theater immer eine humanistische Grundhaltung. Die unzufriedenen Menschen können wir ansprechen und gewinnen, die Rassisten nicht.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Und wie gewinnen Sie die Menschen?

Daniel Morgenroth: Es gab hier in der Coronazeit großen Widerstand gegen die Impfung. Wir haben dann eine Impfsprechstunde angeboten, als Livestream mit zwei Medizinern, die Fragen beantwortet haben. Angesichts des Ärztemangels war das ein wichtiges Forum. Ähnliches versuchen wir nun in einem politischen Kontext. Ich behaupte, dass auch AfD-Wähler in das Stück „Samuel W.“ gehen können und es nicht rundherum ablehnen werden. Der Abend bietet konträre Andockungspunkte. Wir würden es uns zu einfach machen, zu behaupten, wir als Theater seien die Guten und wüssten, wie alles geht. Da machen wir es uns zu leicht. Den Grundkonsens des Humanismus und der Friedfertigkeit müssen wir verteidigen. Oft sind wir aber zu bequem, uns mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen.

Juliane Hendes: Bei uns hat sich die Zusammenarbeit mit Menschen sehr bewährt, die in der politischen Bildung arbeiten. Workshops und Nachgespräche um die Inszenierung herum können die Theaterarbeit besser beleuchten und die Selbstwirksamkeit des Publikums erweitern.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Frau Herden, gibt es im Schauspiel Hannover Raum für Nachgespräche?

Anja Herden: Wir machen sehr viele Nachgespräche. Bei einer Kooperation mit dem Theater Groningen – ein Stück mit dem israelisch-marokkanischen Regisseur Guy Weizman und diversem Ensemble und einer Familiengeschichte, in der viele Themen des gegenwärtigen Diskurses vorkamen – haben die Menschen in den Gesprächen nach den Vorstellungen gesagt, wie viel sie gelernt haben. Dabei hatte ich gedacht, die Themen seien so neu nicht! Man hält viele Diskurse für selbstverständlicher, als sie es sind. Dieser Austausch ist also auch für mich und das Ensemble lehrreich. In Hannover gibt es beim Publikum ein großes Bedürfnis danach.

Daniel Morgenroth: Bei uns werden die Nachgespräche jenseits der Theaterfreunde nicht immer so sehr nachgefragt, es hängt auch von der Produktion ab, bei „Samuel W.“ bieten wir das mehr an als bei Klassikern.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Wie hat die Pandemie das gesellschaftliche kulturelle Leben verändert? Unserem Eindruck nach ist das Bedürfnis nach kollektivem Austausch und Ausdruck riesig.

Anja Herden: Nach Corona schien es mir, dass leicht zugängliche, zum Beispiel musikalische Formate, besonders gefragt waren.

Daniel Morgenroth: Es ist eine große Freude, sich wieder begegnen zu dürfen. In der Coronazeit hatte ich die Sorge, dass wir Körperlichkeit erst wieder erlernen müssen, das kam aber schnell zurück. Nur wenige trauen sich noch nicht.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Die Recherche von CORRECTIV über ein rechtsextremes Netzwerktreffen in Potsdam, die im Berliner Ensemble präsentiert und auch gestreamt wurde, hat hohe Wellen geschlagen. Hat es Theater hier endlich wieder in eine breite Öffentlichkeit geschafft?

Anja Herden: Diese Recherche hat mich sehr beschäftigt. Der Abend wurde auch bei uns in Hannover gestreamt, und das Schauspielhaus war voll. Am Ende wurde sogar mitskandiert, und das Publikum stand auf! Das war etwas bizarr, aber auch toll. Und da müssen wir doch hinkommen, dass wir gemeinsam diese Immobilie nutzen und man nicht alleine bleibt mit seinen Ängsten.

Daniel Morgenroth: Sie haben recht. Dieses Sich-nicht-alleine-Fühlen ist ein zentraler Punkt. Wir haben uns an dem Stream aus dem BE aus verschiedenen Gründen nicht beteiligt. Die Mischung von Fakten und Fiktion halte ich für gefährlich, so ehrenwert das gemeint ist. Und natürlich ist es eine Versicherung der Einigkeit, es wirkt aber nicht nach draußen und schadet der AfD nicht. Die Recherche von CORRECTIV selbst halte ich dabei durchaus für wichtig.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Vielleicht ist es ja auch das Recht des Theaters, nach dem richtigen Ausdrucksweg zu suchen?

Anja Herden: Ich war irritiert und angetan zugleich. Die schnelle Reaktion fand ich angemessen. Aber im Theater sind mittlerweile viele Diskurse vermint. Die Selbstgerechtigkeit, mit der auch ich selbst aus meiner Marginalisierung he­raus zuweilen agiere, ist schwierig. Man muss Fehler machen dürfen und auch mal über das Ziel hinausschießen.

Juliane Hendes: Bei der CORRECTIV-Recherche, der Aktion im BE und den Demonstrationen kommt vieles zusammen. Ich verstehe die Diskussion in der Branche über diese szenische Lesung, und es ist richtig, das zu diskutieren. Der Punkt ist aber, dass anderthalb Millionen Menschen auf den Straßen waren, und das BE war Teil dieser Energie. Das hatte Relevanz, weil deutlich wurde, dass ein großer Teil der Bevölkerung sich gegen Umtriebe wie die in Potsdam wehrt. Ich kann nicht verurteilen, dass die Theater sich daran beteiligen. Man muss aus zeitlicher Distanz noch mal draufschauen, um es besser beurteilen zu können.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Ist Zielgruppentheater vielleicht noch die einzige Antwort auf eine zersplitterte Gesellschaft?

Juliane Hendes: Ich habe nicht den Eindruck, dass es eine Aufsplitterung gibt, aber ich bin an den derzeit intensiv diskutierten Themen natürlich auch sehr interessiert. In Zittau scheint „Samuel W.“ ja geradezu eine Einladung ans Publikum zu sein.

Daniel Morgenroth: Die Spaltung der Gesellschaft merken wir eher in den Verteilungsdebatten vor Ort. Unser Haushalt für 2025 ist nicht gesichert, und dann wird populistisch das Theater gegen das Freibad ausgespielt. Wir merken eine Veränderung insofern, als die bildungsbürgerliche Setzung Stadttheater nicht mehr automatisch gilt.

Anja Herden: Ich selbst dachte kürzlich, als ich Shakespeare-Aufführungen gesehen habe: Merkwürdig, die sind ja alle weiß. Nach vier Jahren in einem diversen Ensemble empfinde ich es inzwischen als regelrecht befremdlich, in einem anderen Theater zu sitzen und festzustellen, dass alle Personen auf der Bühne weiß sind. Ich denke, dass es unserem Publikum in Hannover ähnlich geht. Aufgebrochene Sehgewohnheiten im Theater sind für den Prozess der Akzeptanz einer diversen Gesellschaft wesentlich.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Omnipräsente Themen auf den Bühnen sind derzeit Natur und KI: Themen, die unser soziales Miteinander in rasendem Tempo neu ordnen. Sind diese neuen Fragen eine Chance? Oder bedeuten sie eher das Ende zwischenmenschlicher Kommunikation?

Juliane Hendes: Das sind große Themen, mit denen wir uns beschäftigen müssen. Die sozialen Aspekte werden sich wiederfinden auf der Bühne. Der Klimawandel wird bald vor allem eine Klassismusfrage.

Daniel Morgenroth: Themen wie Klimawandel, Geschlechtergerechtigkeit, Migration – das sind doch alles Vorschubgefechte, weil wir uns nicht trauen, eine konsequente Kritik des Spätkapitalismus vorzunehmen! Wir sind als Theater doch feige und doktern an den Symptomen herum. Im Grunde müssten wir Social Media von diesen asozialen Konzernen wie Facebook abschaffen. Die sozialen Medien befördern ja in hohem Maße die Probleme, über die wir sprechen. Vielleicht würde der Gesellschaft ein Social-Media-Verbot mehr bringen als ein AfD-Verbot. Weil die Leute sich da nicht austauschen, sondern gegenseitig mit Hass zuschaufeln. Wir brauchen natürlich digitale Werbung, aber im Grunde ist es schädlich für die Gesellschaft.

Das Interview ist erschienen in Heft 2/2024 der DEUTSCHEN BÜHNE.