„König Lear” von Stefan Pucher inszeniert an den Münchner Kammerspielen

Saisonbilanz 2019/20

Die besten Inszenierungen, die spannendsten Theater und der Corona-Wahnsinn: Die Autoren der DEUTSCHEN BÜHNE beurteilen die Saison

aus Heft 08/2020 zum Schwerpunkt »Saisonbilanz 2019/20«

Die besten Inszenierungen, die spannendsten Theater und der Corona-Wahnsinn: Die Autoren der DEUTSCHEN BÜHNE beurteilen die Saison

Bedrohte Kostbarkeiten

Diese Autorenumfrage in der Corona-Krisensaison 2019/20 ist uns besonders wichtig. Denn sie zeigt, was derzeit auf dem Spiel steht – auch angesichts einer kulturpolitischen Gedankenlosigkeit beim Krisenmanagement, die die große Mehrheit der beteiligten Autoren scharf kritisiert

Die Nachricht vom großen Shutdown erreichte mich, als ich aus privaten Gründen ein paar Tage nicht in der Redaktion war. Ich weiß noch genau, wie mir erst so nach und nach ins Bewusstsein sickerte, was das für die Theater bedeuten würde. Erst war ich ratlos: Schock- und Gedankenstarre. Doch als dann die Hiobsbotschaften aus den Theatern hereintröpfelten, teils sachlich, teils trotzig, teils fatalistisch, da wurde klar: Das wird der größte Einschnitt in das Bühnenleben dieses an Bühnen so unvergleichlich reichen Landes seit dem Zweiten Weltkrieg. Nicht nur wegen der befristeten Schließungen und der daraus resultierenden Einnahmeausfälle, sondern auch, weil auf lange Sicht unabsehbar bleiben wird, wie die Folgen für die Theater aussehen. Das ist der historische Rahmen, den wir bei der Auswertung unserer Autorenumfrage zur Saison 2019/20 berücksichtigen müssen.

Erst war das Theater mundtot, weil es sich künstlerisch nicht mehr äußern konnte. Und dann driftete es ins Offene einer völlig unberechenbaren Situation. Wie kann man unter Corona-Bedingungen sicher spielen? Was, wenn man sich dabei verschätzt und ein Theater zum „Superspreader“ wird? Kommt eine zweite Infektionswelle? Wie werden die Finanzeinbußen der absehbaren Rezession zu Buch schlagen? Wann werden wir einen Impfstoff haben? All das weiß man bis heute nicht genau. Dass die Kulturpolitik den Theatern in diesen Wirrungen ein hilfreicher Begleiter war, kann man ihr nicht nachsagen – so jedenfalls sieht das die überwältigende Mehrheit der 59 an dieser Umfrage beteiligten Autorinnen und Autoren.

 

Eine Umfrage im Ausnahmezustand

Natürlich haben wir in der Redaktion diskutiert, ob unter diesen Umständen eine Autorenumfrage überhaupt sinnvoll ist. Ist eine künstlerische Bewertung der vergangenen Saison der historischen Situation wirklich angemessen? Erstaunlicherweise gab uns die Situation selbst die Antwort auf diese Frage. Denn der Begriff „Kostbarkeit“ bekam in Bezug auf die Theater in den letzten Monaten einen fatalen Beigeschmack. Tatsächlich wurde das Theater plötzlich nur noch als Kostenfaktor behandelt, aber nicht mehr als künstlerischer Gesprächspartner. Es wurde unter dem Aspekt seiner Finanzierung eingegliedert in die Hilfsmaßnahmen – wurde, wie unser Autor Roland H. Dippel treffend schreibt, „irgendwo auf dem Eventstrahl zwischen Kirche und Sport angesiedelt“. Und diese Maßnahmen zeugten zudem von einer teils erschreckenden Unkenntnis der Theaterspezifika. Als es dann darum ging, wer sich nach der großen Zwangspause wieder in die Öffentlichkeit trauen durfte, standen die Theater in der Wahrnehmung der Politik und offenbar auch der öffentlichen Meinung weit hinten in der Reihe. Dass das Theater beitragen könnte zu einem humanen und demokratischen Umgang mit der Krise, kam offenbar keinem in den Sinn. Und die Art, wie es am Ende von Politikern wie Armin Laschet wieder in den Spielbetrieb gestoßen wurde: achtlos, Hals über Kopf, ohne praktische politische Begleitung, auf eigene Verantwortung und eigenes Risiko – sie setzte dieser Gleichgültigkeit die Krone auf.

Dass die Theater aus Gründen der Infektionsgefahr schließen mussten, war einzusehen. Dass aber ausgerechnet in dieser Situation Kulturpolitik über Monate de facto nicht stattfand, war befremdlich. Lange Zeit machte sich kaum ein Politiker öffentlich Gedanken darüber, wie Theater wieder spielen, sich künstlerisch artikulieren konnten. Sie wurden offenbar kaum vermisst – an diesem Eindruck vermochten auch die verspäteten Relevanzbeteuerungen der Kanzlerin und anderer nichts mehr zu ändern. Wie konnte es dazu kommen? Lag und liegt das an der von vielen unserer Autoren so heftig angeprangerten kulturpolitischen Inkompetenz?

 

Politisch korrekt im Abseits

Oder müssten die Theater und ihre Interessenvertreter sich womöglich auch selbst fragen, warum sie so sang- und klanglos vom Radarschirm der öffentlichen Wahrnehmung verschwinden konnten, trotz der in dieser Umfrage dokumentierten künstlerischen Lebendigkeit nicht an allen, aber an vielen Häusern? Die Formenvielfalt, die kreative Energie, die ästhetische Attraktivität, die multimediale Opulenz der Mittel, die undogmatische Polyphonie verschiedenster Stile – wann wäre das Theater jemals so reich gewesen wie in den letzten 30 Jahren? Aber vielleicht ist es ja so, dass all diese Mittel erst dann wahrgenommen werden, wenn sie in eine unverwechselbare kommunikative Dringlichkeit ein-gebunden werden. Worin aber könnte diese Unverwechselbarkeit und Dringlichkeit liegen?

Es ist ja nicht so, dass wir in den letzten Jahren einen Mangel an Theaterdebatten gehabt hätten. Die Theaterleute haben sich die Köpfe heiß diskutiert über Blackfacing, Diversity, Gender Equality, Cultural Appropriation, Critical Whiteness, die Familienfeindlichkeit künstlerischer Arbeitsplätze, sexuelle Nötigung oder Demütigung im Beruf, über die Integration von Migranten, die Arbeit mit benachteiligten Menschen … Lauter wichtige Themen, ganz offensichtlich! So offensichtlich, dass andere sie meist schon früher bemerkt haben als die Theater. Worüber die Theater aber eher wenig geredet haben, das waren ihre künstlerischen Absichten und ihre in diesen begründeten kommunikativen Alleinstellungsmerkmale. Einer Unterscheidung folgend, die der Münchener Soziologe Armin Nassehi unlängst bei einem Vortrag vor dem Verwaltungsrat des Deutschen Bühnenvereins skizziert hat, könnte man sagen: Die Theater haben sich ihre Selbstbeschreibung durch die Fremdbeschreibung anderer gesellschaftlicher und politischer Gruppen vorgeben lassen. Damit sind sie verwechselbar geworden. Und weniger wahrnehmbar.

 

Kunst muss radikal anders sein

Der Hauptzweck der Theater ist aber nicht, politisch korrekt zu sein, den Zielen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen beizupflichten oder sich durch sozialpolitische Brauchbarkeit auszuzeichnen. Der Hauptzweck ist, Kunst hervorzubringen. Und Kunst lebt nicht nur von Können und dem dadurch erschließbaren Reichtum der Mittel. Kunst lebt von einer radikal subjektiven Dringlichkeit. Dass diese Subjektivität im Theater in ein dramatisches Spannungsverhältnis zu dessen kollektiver Organisationsform führt, muss zwar in der Selbstreflexion der Bühnen eine wichtige Rolle spielen. Die Diskurse über Arbeitsklima, Arbeitsplatzqualität und materielle, sexuelle oder psychische Ausbeutung sind hier wahrlich nicht fehl am Platz. Aber seit zumindest in den aufgeklärten Demokratien Fürstenpreis und Staatsverherrlichung als Zweck der Kunst auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet sind, geht es hier nicht mehr ohne Radikalität und Subjektivität. Denn sie garantieren, dass das Theater etwas bieten kann, was Politik, Wissenschaft und gesellschaftliche Interessenvertreter nicht bieten: eine fundamental andere Sicht auf Welt und Menschen. Eine „verrückte“ Sicht vielleicht, provokant, ärgerlich, kontrafaktisch – eine Sicht jedenfalls, deren „Melodie“ (um ein Zitat des frühen Karl Marx abzuwandeln) die „versteinerten Verhältnisse“ im Kopf zum Tanzen zwingt.

Darin, in dieser seiner Kunst, ist das Theater einmalig und „kostbar“ in einem nicht monetären Sinn. Und genau deshalb finden wir es wichtig, das Theater gerade in dieser Corona-Situation durch unsere Umfrage als Kunstform zu würdigen. Ja, es hat sich sogar herausgestellt, dass vor dem Corona-Hintergrund einige Dinge klarer hervortreten als im „Normalbetrieb“ der Bühnen. Beginnend mit einem äußerlichen Merkmal: Was ist nicht in den vergangenen dreißig Jahren über die vorgebliche Unflexibilität der Stadttheater geschimpft worden. In der Corona-Krise dagegen hat sich das Modell Mehrsparten-Stadttheater – längst nicht überall, aber an vielen Orten – als extrem flexibel erwiesen. Stadttheater haben neue, infektionshygienisch kompatible Spielweisen ersonnen, haben Onlineformate kreiert, neue Erzählweisen adaptiert, haben dabei mit anderen Institutionen kooperiert, neue Spielorte gefunden, alte neu erobert … All das hinterlässt den Eindruck: Die vermeintlich „versteinerten“ Stadttheater-Verhältnisse haben ihren Sitz nicht in der vielgeschmähten Institution, sondern wenn, dann in den Köpfen derer, die sie betreiben.

 

Reichtum und Risiko

Sehr klar tritt auch die erwähnte Diskrepanz zwischen künstlerischem Reichtum und mangelnder politischer Wahrnehmung in den Ergebnissen dieser Umfrage hervor. In den insgesamt weit über 300 Nennungen tritt uns eine unglaubliche Vielfalt entgegen, von mehr oder weniger gelungenen Onlineformaten über hygienisch korrekte Spielmodelle bis zu innovativen situationsangepassten Formaten, die da in den letzten Wochen aus dem Krisenboden emporgewachsen ist – vor dem Hintergrund von über 40 Einzelbeispielen allein in der Rubrik Format im Shutdown würdigt beispielsweise unser Autor Hans-Christoph Zimmermann ausdrücklich „die Experimentierlust der Theater“. Zugleich aber attestieren 37 von 59 Autoren der Politik, dass sie sich gegenüber dem Theater entweder inkompetent, missachtend oder finanzpolitisch mangelhaft verhalten hat.

Das ist trotz der Ausnahmesituation, die ja für Theater wie Politik gilt, schon ein erstaunliches Missverhältnis – und eine erhebliche Bedrohung für all diese Kostbarkeiten, über die unsere Autorin Sophie Diesselhorst schreibt: „Die Corona-Krise macht sichtbar, wie schwach die Kulturpolitik im politischen Spektrum ist. Die Kultur ist in der coronapolitischen Abstimmung zwischen Bund und Ländern vielerorts schnell unter die Räder gekommen. Die ,Soforthilfe‘-Hilfsprogramme der Länder, sofern es sie überhaupt gab, haben den Bedarf für Kunstschaffende bei Weitem nicht abgedeckt, ganz zu schweigen davon, dass manche Berufsgruppen freier Theaterschaffender sich gar nicht erst darum bewerben konnten. Ob und wie Bund und Länder den Theaterinstitutionen in der zu erwartenden kommunalen Sparrunde nach der Krise unter die Arme greifen werden, steht ja noch nicht fest. Aber dass die Kultur auch bei den Lockerungen momentan ganz hinten in der Schlange zu stehen scheint, macht nicht viel Hoffnung.“