Die Autorin Fatma Aydemir hat Goethes bekanntestes Drama umgeschrieben: „Doktormutter Faust“ eröffnete in der Inszenierung von Co-Intendantin Selen Kara die neue Intendanz in Essen – und ist beispielhaft für eine Reihe von Adaptionen, die den klassischen Kanon umschreiben.
„Doktormutter Faust“ ist ein Auftragswerk der neuen Doppelintendanz von Selen Kara und Christina Zintl am Schauspiel Essen, die unter dem Slogan „Neues Deutsches Theater – under construction“ läuft. Der Slogan soll „eine neue Perspektive auf das als deutsch Gedachte werfen“, so Fatma Aydemir. In ihrem 2017 erschienenen Debütroman „Ellbogen“ schrieb die Autorin über eine wütende 17-jährige Migrantentochter, die einen deutschen Mann vor die U-Bahn schubst, ohne es zu bereuen. Ihr zweiter, 2022 erschienener Roman „Dschinns“ handelt von einem türkischen Familienvater, der 30 Jahre in Deutschland arbeitet, um nach seiner Rente ein neues Leben in Istanbul zu beginnen, doch noch bevor er sich seinen Traum erfüllen kann, stirbt er an einem Herzinfarkt, und anstatt das neue Zuhause zu feiern, trifft sich die Familie zur Beerdigung. Nun hat die Schriftstellerin und Enkeltochter türkischer Gastarbeiter erstmals fürs Theater geschrieben – und zwar die feministische Überschreibung eines der deutschen Bühnenklassiker schlechthin: „Faust“. Szenisch an Goethes „Faust I“ angelehnt, beginnt ihre Version der Tragödie mit einem Streitgespräch, das sich sowohl auf die Realsituation der Uraufführung als auch auf die Debatte um die Überschreibung von Theaterklassikern bezieht: Warum gerade mit einem misogynen Stück wie „Faust“ die Saison eröffnen? Und was ist denn eigentlich dieses „Neue Deutsche Theater“?
Kunst ist nie unpolitisch
Dass Aydemir Themen wie Rassismus, Fremdenfeindlichkeit oder Feminismus als Schwerpunkte ihrer Werke setzt, wirkt auf den ersten Blick naheliegend. Fragt man Aydemir selbst, ist die Antwort nicht ganz so einfach: „Wahrscheinlich hätte ich das vor drei bis vier Jahren noch anders beantwortet, aber mittlerweile versuche ich mit der Idee, dass ich in dieser Hinsicht eine Verantwortung hätte, sehr vorsichtig umzugehen.“ In erster Linie sieht sich Aydemir als Künstlerin, aber auch als politischen Menschen: „Ich finde nicht, dass es irgendein Kunstwerk, Literatur oder ein Theaterstück gibt, das unpolitisch ist.“ Für die Journalistin bahnen sich Themen wie Gender so immer wieder den Weg in ihre Texte. Aydemir fokussiert sich dabei auf komplexe Figuren, aus denen heraus sie ihre Geschichten erzählen möchte: „Wenn ich mir in Goethes ‚Faust‘ Gretchen anschaue, dann lese ich diesen Kindsmord als Konsequenz aus einem nicht existenten Abtreibungsrecht.“
Selen Kara umrahmt Aydemirs klugen Text mit einer bildhaften Inszenierung um den Kern der menschlichen Existenz und Verfehlungen: Zu Beginn sieht man einen sich drehenden menschlichen Körper im Embryohaltung auf schwarzem Vorhang und die riesige Projektion eines Granatapfels, symbolisch für Fruchtbarkeit, Religion oder Macht. Unter diesen riesenhaft schwebenden Bildern wirken die Schauspieler:innen wie in einem eigenen Universum unbedeutend und zufällig in ihrer konstruierten Realität. Genau das soll auch hinterfragt werden: das von der Gesellschaft Konstruierte. „Für mich ist die große Herausforderung an dem Stoff die Gretchenfigur beziehungsweise wie Goethe sie angelegt hat“, so Aydemir. Die Gretchenfrage stellt sich bei der Autorin anders: Es gibt kein Gretchen, zumindest nicht die Figur, das Gretchen „als Projektionsfläche und Fantasieprodukt eines privilegierten Cis-Mannes aus dem 18. Jahrhundert“, wie es im Text heißt. So betont auch die Figur der Dichterin im Stück: „Gretchen ist kein Mensch, den ich retten muss, Gretchen ist eine Figur, die ich abschaffen muss, damit wir alle frei sind.“
Faust ohne Gretchen?
Also gar kein Gretchen mehr? Doch: „Ich wollte nicht einfach dieses Stück überschreiben und die Probleme des Originals unsichtbar machen, sondern genau mit diesen arbeiten“, so Aydemir. Ein bisschen Gretchen steckt in allen: in Prof. Margarete Faust, die von ihren Studierenden für ihre feministischen Sichtweisen gefeiert und von der Gesellschaft zur Verschwörerin denunziert wird, oder auch in ihrem schwulen migrantischen Studenten Karim, den sie begehrt und nicht haben kann. Aydemirs Mephisto stellt sich als einzig an der menschlichen Lust interessiert vor, als Satan, Lucifer und Höllenfürst oder auch als mit dem Satan vergleichbaren Gestalten des Islam: Shaytan und Iblis. Aufgetakelte Punk-Hexen sollen Faust in der Hexenküche dann nicht etwa verjüngen, sondern sie von ihrem eigentlichen Fluch befreien, dem „Auge“, das Äußerlichkeiten misst, objektifiziert und Menschen nach gesellschaftlichen Regeln in begehrenswert oder nicht einteilt. Im Spiegel erkennt Faust sich dann selbst – und Karim. In dem dichten Netz aus Beziehungen und Begegnungen birgt sich im Gegenüber immer die Reflexion und Projektion des eigenen Selbst: Was von dir erkenne ich in mir wieder?
Mit Karim will Aydemir das faustische Machtthema in die akademische Welt übersetzen: „Die Figur ist angelehnt an viele junge Menschen, die versuchen, an Universitäten Fuß zu fassen, an denen die hierarchischen Strukturen aus der Zeit gefallen scheinen und ihre ganze Karriere eigentlich vom Doktorvater oder der Doktormutter abhängt“, so die Autorin. Darin erklärt sich also auch der Begriff „Doktormutter“ im Stücktitel, hinter dem eine paternalistische Struktur steckt. Gleichzeitig ist der Autorin wichtig, Karims unsicheren Aufenthaltstitel zu thematisieren – nicht als strategische Überlegung, sondern um ihre eigene Lebensrealität aufzugreifen: „Ich schreibe keine Geschichten, in denen alle Leute weiße Deutsche sind, weil das einfach nicht meine Realität abbildet.“
Karim, der Faust schließlich wegen sexuellen Missbrauchs anzeigt, beginnt zu verstehen, dass er von einem Machtspielchen ins nächste stolpert, seine Geschichte wird instrumentalisiert, um wiederum jemand anderen, Faust, zu unterdrücken. Auch die Professorin möchte Karim vor der Abschiebung schützen, doch der rettet sich am Ende selbst und heiratet Fausts schwangere Assistentin Valeria – eine Win-win-Situation für beide. Derweil gelangt Faust am Ende zu der Erkenntnis, dass sie sich der Welt nicht entziehen kann. Sie begreift, dass ihr Inneres genauso ein Kerker sein kann wie ihre „freie“ Existenz auf der Welt. So dreht sich Macht in „Doktormutter Faust“ letztendlich um die Frage, warum und wie man sich andere zu eigen machen will. Zudem hält reine Vernunft nicht die Balance zum Begehren, was Bettina Engelhardt in der Titelrolle genauso streng wie nahbar verkörpert.
Aydemirs kurzweilige Überschreibung besticht durch eine gekonnt verschränkte Themendichte. Das Stück im Kontext der Zeit zu betrachten bedeutet für die Autorin auch, es im Kontext unserer Zeit zu betrachten. Aber wozu überhaupt ein „Neues Deutsches Theater“ mit alten Klassikern? Aydemir kann sich vorstellen, dass dadurch verschiedene gesellschaftliche Gruppen verbunden werden: „Als Frischling am Theater kriege ich mit, dass an jedem Haus diskutiert wird, wie man neues Publikum ans Haus bringt.“ Und das Theater spreche nun mal nur sehr bestimmte soziale Schichten an.
Verführung als Grenzüberschreitung
Auch durch Karas sinnliche Inszenierung in Essen entsteht der Eindruck, dass Aydemir bei den grundlegenden Themen um Macht, Verführung und Begehren auf die Grauzonen hinauswill, die eben genau diese Grenzen zwischen Richtig und Falsch verwischen. So schreibt die Autorin im Stücktext: „Verführung ist immer eine Grenzüberschreitung. Okay? Ich formuliere eine Grenze. Und ich spüre, wie du dich dennoch dagegenschiebst, ja, gegen meine Grenze, und ich habe die Macht, zu beschließen, sie ein Stückchen weiter zurückzuziehen.“ Gerade bei moralisch heiklen Themen gibt das hoffentlich zu denken. So übt die Autorin auch Kritik an allen Seiten der Diskurse über Feminismus, Gender, Religion, Missbrauch oder auch Fremdenfeindlichkeit, die sich auf Extrempositionen festnageln. Aydemir übersetzt Goethe in den jetzigen Theaterdiskurs, schreibt „Faust“ aus ihrer Lebensrealität als tätige Autorin heraus in ein heutiges Deutschland, mit den Themen, die aktuell beschäftigen – und macht es das nicht gerade aus, dieses „Neue Deutsche Theater“?