Theaterschließungen und digitale Projekte haben die „Corona-Spielzeit“ 2019/20 geprägt: Eine Analyse zu Aufführungs- und Zuschauerzahlen aus der aktuellen Werkstatistik
Für uns alle war die Pandemie, die spätestens mit dem Lockdown Mitte März 2020 begann, ein Einschnitt in das alltägliche Leben. So auch für die Theater. Von einem Tag auf den anderen gab es keine analogen Aufführungen mehr. Das ist mit kurzen, lokal variierenden Unterbrechungen über ein Jahr lang so geblieben, in einigen Gegenden spielen die Theater inzwischen wieder vor reduziertem Publikum. Länger als ein Jahr lang gab es also im Grunde kein traditionelles Theater mehr, allenfalls teils traurige, zuweilen aber auch bemerkenswerte und aufregende Versuche, ein digitales Theater zu schaffen.
Da die Schließungen völlig ungeplant kamen, nichts mit einem Sabbatjahr zu tun hatten oder mit der von Heiner Müller einst empfohlenen therapeutischen Theaterschließung für ein Jahr, vielmehr eine Dauerbelastung aus allgemeiner Verwirrung, Notplanungen, konkreten Zukunftsszenarien und enttäuschten Hoffnungen hervorriefen, stellte dieses überlange Jahr eine existenzielle Krise des Theaters und seiner Institutionen dar – und es war ganz besonders für viele der in den Theatern arbeitenden Menschen eine immense Herausforderung. Und gleichzeitig hat die pandemiebedingte Krise auch ein anderes, zweites Gesicht. Denn wie jede Krise bietet sie die Möglichkeit, dass strukturelle Blockaden überwunden, durchaus problematische Routinen durchbrochen, neue Formen, Formate, Produktions- und Organisationsweisen erfunden und etabliert werden, dass viele Dinge, die zuvor als unverrückbar galten, auf einmal ganz neu gedacht werden können, Erfindungsgeist geweckt wird, wo zuvor Gewohnheit war.
So wie den Theaterschaffenden geht es auch uns, die wir die Theater in ihrer Arbeit begleiten – als Theaterwissenschaftler beziehungsweise als Redakteure einer Theaterzeitschrift und der Werkstatistik. Die diesjährige Ausgabe der Werkstatistik „Wer spielte was?“ dokumentiert die Aufführungsaktivitäten der Theater während der „ersten“ Corona-Spielzeit. Auch uns stellt sich die Frage, wie und ob wir den veränderten (Theater-)Realitäten gerecht werden können. Sind etwa die Kategorien und Genreeinteilungen der Werkstatistik noch geeignet, um die neuen Formen und Formate, die in den letzten 14 Monaten entstanden sind, abzubilden und einzufangen? Bedürfen sie der Ergänzung oder Differenzierung?
Die Spielzeit 2019/20 war eine zweigeteilte, in der sich Kontinuität und Disruption überlagerten. Während bis März 2020 noch unter halbwegs normalen Bedingungen Theater gemacht werden konnte, veränderte sich im März die Situation aller Theater und Theaterschaffenden radikal. Beides spiegelt sich in der aktuellen Werkstatistik wider.
Erwartet hatten wir, dass sich durch die beschränkten Aufführungsaktivitäten der Theater die Seitenzahl der Werkstatistik deutlich verringern würde. Tatsächlich aber ist die diesjährige Ausgabe der Werkstatistik nur um wenige Seiten schlanker geworden als die letztjährige, der mit Abstand größte Abschnitt im Buch, das Kapitel Schauspiel, hat sich lediglich um 20 Seiten reduziert.
Ausgeglichen wird dies durch ein neues Genre, das wir in die Statistik aufgenommen haben und das für den Bruch in der Aufführungs- und Produktionspraxis der Theater steht: das Genre Digitales Theater, das sich auf 30 Werkstatistikseiten dokumentiert findet. Die Daten machen deutlich, wie unterschiedlich die einzelnen Häuser unabhängig von ihrer Größe oder den zur Verfügung stehenden Ressourcen mit dem neuen Medium und den Möglichkeiten, die es bietet, umgegangen sind. Während sich einige Theater offenbar weitgehend verweigerten, griffen andere ins digitalisierte Aufzeichnungsarchiv, wieder andere entwickelten vielfältige Spielformen eines innovativen Hybridtheaters.
Auch auf dieses neue Genre ist zurückzuführen, dass sich die Anzahl der erfassten Werke (-13 Prozent) wie auch die der Inszenierungen (-14 Prozent) trotz des Lockdowns nicht so deutlich reduziert hat wie angenommen. Anders sieht es bei den Zuschauerzahlen aus, die um fast 40 Prozent eingebrochen sind. (Hier konnten wir für die digitalen Projekte noch keine Zuschauerzahlen erfassen, weil angesichts der sich rasant erst entwickelnden und dabei sehr unterschiedlichen Vertriebsformen noch keine solide Zählung möglich war – für die folgende Spielzeit soll sich das ändern.) Wie gravierend sich die Diskrepanz von betriebenem Aufwand einerseits und stark reduzierten Besuchen andererseits auf die Wirtschaftsdaten der Theater ausgewirkt hat, wird die zum Ende des Jahres erscheinende Theaterstatistik des Deutschen Bühnenvereins zeigen.
Im Zeichen des radikalen Bruches steht das Festival- und Festspielwesen. Viele Festivals und Festspiele, die sonst ihre Daten für die Werkstatistik zur Verfügung stellen, tauchen in der diesjährigen Ausgabe nicht auf. Die Ruhrfestspiele Recklinghausen, die Kunstfestspiele Herrenhausen, die Internationalen Händel-Festspiele Göttingen, die Karl-May-Festspiele Bad Segeberg, die Nibelungen-Festspiele Worms mussten ebenso wie die Passionsspiele Oberammergau, die Ruhrtriennale, Theater der Welt und viele andere, kleinere Festspiele und Festivals abgesagt oder verschoben werden. Die Festival- und Festspielsaison 2020 – sie hat in weiten Teilen schlicht nicht stattgefunden! Für die Theaterlandschaft insgesamt werden die Einschnitte durch die Theaterschließungen allerdings in der nachfolgenden Saison 2020/21 statistisch deutlich krasser ausfallen.
Wir wollen in dem Schwerpunkt die Veränderungen im Repertoire, die durch die Coronakrise ausgelöst oder beschleunigt wurden, beschreiben: indem wir Zahlen anschaulich aufarbeiten, in ihrer Arbeit Betroffene zu Wort kommen lassen und indem wir neue digitale Theaterformen analysieren. Vielleicht finden wir in der Werkstatistik „Wer spielte was?“ für die Saison 2019/20 in Ansätzen schon Spuren des Theaters der Zukunft.
Im aktuellen Heft nun einige Auswertungen der Daten. Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich diese Zahlen auf die gesamte deutschsprachige Theaterlandschaft. In der Regel sind Prozentwerte genannt; die absoluten Zahlen finden sich in der Werkstatistik, die Ende des Monats erscheinen wird.