Chor und Tänzer in Alain Platels neuer Arbeit.

Zwischen ich und wir

Alain Platel: C(h)oeurs

Theater:Ludwigsburger Schlossfestspiele, Premiere:08.06.2012 (DE)Musikalische Leitung:Marc Piollet

Bin ich auch ein ich oder vor allem ein Wir? Sind wir Individuen oder werden wir erst als Teil einer Gruppe wirklich zum Menschen? Über weite Strecken von „C(h)oeurs“ – der aktuellen, ganz wunderbaren choreografischen Arbeit des Belgiers Alain Platel, die bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen ihre einzige Deutschlandstation hatte – wähnt man sich inmitten einer eigenwilligen Gruppendynamik. Die Verlorenheit des Einzelnen verliert komplett an Bedeutung. Über allem, so scheint es hier, steht eben doch das Wir.

Der Titel „C(h)oeurs“ spielt mit der lautlichen Doppelung von Chor und Herzen, die fühlende Masse ist vereint im Klangteppich ihrer Stimmen. Es ist ein „Projekt mit Musik von Guiseppe Verdi und Richard Wagner“, eine choreografische Verschmelzung der Tänzer von Platels „le ballets C de la B“ und dem Opernchor des Teatro Real aus Madrid. Zehn Tänzer zwischen gut 70 Sängern auf einer holzbodenleeren Bühne – und man musste befürchten, dass die Gassenhauer aus Verdis „Requiem“, aus „Nabucco“, Wagners „Lohengrin“ oder den „Meistersingern“ wenig ästhetischen Neuwert bringen würden. Ganz falsch gedacht.

Die in alle Richtungen verdrehten, zuckenden Leiber der Tänzer – in rote und weiße Kleider gehüllt – bevölkern zunächst allein die Bühne, mit eingerollten Unterhöschen zwischen den Zähnen, die sie sich, wie Epileptiker zitternd, überstreifen. Dann strömen alltagsbekleidete Choristen zum Pilgerchor aus „Tannhäuser“ herein, unter ihren Pullovern sind Papierherzen auf die Brust gesteckt. „Qui êtes vous?“ dröhnt es aus Lautsprechern, Textfragmente von Marguerite Duras, die großen Lebensfragen. Später, als der in den Zuschauerraum abgewanderte Chor einem einsamen Tänzer auf der Bühne das „Heil König Henrich“ aus „Lohengrin“ entgegenbrüllt, jener Tänzer mit wackliger Gesangsstimme in gleißender Scheinwerferflut antwortet, wird eine Aufgeblasenheit und emotionale Isolation erbarmungslos offengelegt: Grölen und Jubeln eines Volkes gegen das winselnde Zusammenbrechen seines Herrschers.

Nicht die komplette Musikauswahl besteht aus Chören: Zu Wolframs vom Band eingespieltem „Lied an den Abendstern“ aus „Tannhäuser“ mimen die Tänzer fünf Paare, die sich wie uralte Eheleute an den Händen nehmen, mal bemüht in den Allerwertesten treten oder sich gegenseitig in umständliche Hebungen wuchten. Anstrengend ist es zusammen, aber besser doch als allein zu altern.

Immer wieder spielt Platel mit Symbolik zwischen Demokratie und Revolution. So recken die Choristen zu „Libera me“ (Verdi-Requiem) ihre rot angemalten Handflächen in die Höhe, das internationale Zeichen gegen den Einsatz von Kindersoldaten. Zwei kleine Jungs, die den Abend über ein wenig verloren zwischen den Chormassen umherwuseln, werden opfergleich über die Köpfe gehoben. „Revolutions eat their children“, klagt ein Pappschild an.

Der Wiesbadener GMD Marc Piollet leitet das Orquesta Sinfonica de Madrid mit ebenjener präzisen Wucht und Empörung, die auch aus den Massenszenen spricht. Und wenn im Schlussbild sowohl Tänzer als auch einige Mitglieder des Chores sich die letzten Kleidungsstücke abstreifen und zaghaft von der Bühne stelzen, sind alle Unterschiede von Tänzerkörpern und Sängerstimmen aufgehoben.