Foto: Szene aus "Kinder des Olymp" am Schweriner Theater © Silke Winkler/Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin
Text:Dagmar Ellen Fischer, am 25. September 2021
„Die Wirklichkeit ist so schwer zu ertragen und außerdem schlecht gespielt!“ Das Publikum lächelt über dieses witzige Bonmot, doch auf der Bühne scheint der Satz todernst gemeint: Tatsächlich verwischen die Grenzen zwischen Spiel und Realität bis zur Unkenntlichkeit und zur einigermaßen großen Verwirrung der Zuschauer. Alice Buddebergs Inszenierung am Mecklenburgischen Staatstheater begnügt sich nicht mit einer Nacherzählung des Filmklassikers „Kinder des Olymp“, sondern zieht mindestens zwei weitere Ebenen ein.
Die erste Stunde indes gehört allein der berühmten Story: Im Pariser Jahrmarktmilieu gerät die geheimnisvolle Garance zwischen zwei Männer: den Schauspieler Frederick und den Mimen Baptiste. Außerdem hat sie einen Verbrecher zum Freund, als dessen Komplizin sie verhaftet wird und in Schwierigkeiten gerät, aus denen sie ein reicher Adeliger und bewundernder Gönner rettet.
Zwischen Leinwand und Realität
Das Film-Vorbild entstand zwischen 1943 und 1945 in Paris unter schwierigsten Bedingungen, die durch die deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkriegs verursacht wurden. Zeitgenössische Themen waren tabu und so musste die Handlung ins 19. Jahrhundert verlegt werden. Während der Dreharbeiten verband die Darstellerin der Garance – mit Künstlernamen Arletty und im wahren Leben Léonie Bathiat – eine Affäre mit dem deutschen Offizier Hans-Jürgen Soehring.
Buddeberg verwebt die private Ebene der damaligen Crew mit dem Handlungsfaden, lässt den Darsteller des adeligen Retters seine Kollegin Arletty unvermittelt anbrüllen: „Wo hat der nette Nazi geklingelt, wenn er dich besteigen wollte?“ Tatsächlich wird die Schauspielerin 1944 wegen Kollaboration angeklagt. Die Filmpremiere kurz nach der Befreiung 1945 erlebt sie nicht, weil sie im Gefängnis sitzt – was auf der Bühne thematisiert wird als „die Vorwegnahme des Lebens durch ihre Rollen“.
Als dritte Ebene blitzen hier und da unvermittelt Bezüge zur aktuellen Besetzung des Schweriner Ensembles auf, wenn die tatsächlichen Namen der Darstellerinnen fallen, wie es beispielsweise in einer Probepausen-Situation geschieht, die auf der Bühne kurz simuliert wird.
Von Schwarz-Weiß zu Farbe
Die Bühnenfassung nimmt sich mit drei Stunden ebenso viel Zeit wie das filmische Vorbild und zitiert zahlreiche Dialoge wörtlich. Bei den romantischen Begegnungen von Garance und Baptiste spielt der Mond eine wichtige Rolle. Als riesige Scheibe wird er zum Zentrum des Bühnenbilds und als schräge Ebene dient die runde Plattform zugleich als Arena des „Théâtre des Funambules“, in dem sich die Schicksale der Beteiligten entscheiden. Der Boulevard du Crime, Theater- und Darstellernamen bis hin zu einem zustimmenden „oui, oui“ werden sämtlich in französischer Sprache perfekt integriert, nur der Hauptdarsteller wird konsequent mit einem hörbaren P in Baptiste unerklärlicherweise falsch angesprochen.
Die Schweriner „Kinder des Olymp“ unterhalten und fordern das Publikum gleichermaßen. Als Orientierungshilfe zwischen den Ebenen dienen die Kostüme: Solange die pure Handlung gemeint ist, zeigt sich alles, jede und jeder in Schwarz-Weiß. Die Requisiten sind aus Papier und Pappe. Farbe und eine wirkliche Dreidimensionalität tauchen erst nach und nach auf, wenn der rote Faden zusätzliche Seitenstränge bekommt. Selten passte das Kinder-des-Olymp-Filmzitat besser als hier: „Schauspieler – sie sind alle und niemand auf einmal!“