"Eternal Prisoner" am Staatstheater Kassel

Zwischen Autismus und Zärtlichkeit

Johannes Wieland / Tom Weinberger: Eternal Prisoner

Theater:Staatstheater Kassel, Premiere:02.12.2017 (UA)

Man kann es Souveränität nennen oder Großzügigkeit, vielleicht gar beides zusammen. Dass Johannes Wieland, Tanztheaterdirektor am Kasseler Staatstheater, einmal im Jahr einen internationalen Choreographen in sein Haus holt, und ihm die Bühne überlässt. Zwei künstlerische Handschriften an einem Theaterabend. Das weitet den Blick, den der Künstler, der Tänzer und eben auch der Zuschauer. Diesmal also lud Johannes Wieland (50) den dreißigjährigen Tom Weinberger ein. Und gab in diesem Fall zum ersten mal ein gemeinsames Thema vor: Beide nähern sich in ihren unabhängigen Choreographien dem Begriff „Eternal Prisoner“, was so viel heißt wie „ewiger Gefangener“ – das kann man nach innen spiegeln, aber auch nach außen, ein vieldeutiges Thema eben.

Die Bühne – eine Menschenlandschaft. In der weißen Weite stehen schwarzgekleidete Figuren, vereinzelt wie Skulpturen, still. Im Hintergrund ein Klavier, ein Pianist (Donato Deliano). Töne erklingen, vereinzelt tropfen sie in den Raum (Komposition: Matan Daskal). Ganz langsam, so wie auch Victor Rottier und Cree Barnett Williams sich zu bewegen beginnen. Ein Arm hebt sich, ein Fuß winkelt sich ab. Alles wie verzögert, aber nie im Stillstand, denn alles fließt. Tom Weinberger, der israelische Choreograph, der als Mitglied der legendären Badsheva Dance Company begonnen hat, zeigt dies alles in Tableaus voller Schönheit und Sinnlichkeit. In „segments on notes“ formt er Bewegungssequenzen in genauer Strukturierung: Fünf Glühbirnen leuchten sporadisch in den Raum, die Tänzer-Gruppe wechselt zu den unterschiedlichsten Duo-Konstellationen. Begegnungen sind das, leicht hingetupft auf der weißen Fläche wie ein impressionistischer Maler seine Farben auf die Leinwand setzt: zwei, die sich suchen und nie finden, sich bergend, sich tragen, sie sitzt auf ihm, er trägt sie davon, ein Kugelwesen fast mit vier Beinen. Der Bewegungsfluss steigert sich, wird schneller. Bis am Ende Zoe Gysler und Luca Ghedini sich in einem Klangraum aus schwebenden Tönen (Bach-Partita Bearbeitung von Matan Daskal) in wiederholenden Sprüngen über die Fläche bewegen – sich vom Boden abstoßen, immer höher, immer stärker, immer angestrengter. Gleichklang zwar, aber keine Nähe mehr, Paradise lost. Hier geht einer ganz expressionistisch zu den Anfängen des Tanzes zurück und holt ihn ganz ins Heute.

Performativer dagegen die Choreographien von Johannes Wieland. Man könnte an Beuys‘ „erweiterten Kunstbegriff“ denken, oder an Adam Szymczyk, der bei seiner documenta 14 immer wieder vom „Verwischen der Grenzen“ gesprochen hat. Wieland öffnet sein Tanztheater zu anderen Kunstrichtungen, macht es biegsam zwischen bildender Kunst, Sprechtheater und Showelementen. „You will never be my number one fan“ übertitelt er ironisch seine Choreographie, in der er nochmals die Welt entstehen lässt: Tänzer, zu Beginn kriechend auf allen Vieren, finden später irgendwo zwischen Autismus und Egomanie im großen Tanztheater-Bilderbogen zusammen. Auf dem ausgeleuchtetem Bühnenplateau (Bühne: Momme Röhrbein) zum Sound-Mix der skurril-fröhlichen 80er-Jahre-Schlager entstehen Momentaufnahmen von versuchter Nähe und Begehrlichkeit, Begegnungen auf Abstand von Gotaute Kalmataviciute und Luca Gheidini, Soloperformances im Selbstdarstellungsmodus (wunderbar: Shafiki Ssegaye). I am my Nummer one. Die Tänzer auf der Bühne dort oben (deren Beleuchtungsbatterie im Hintergrund immer wieder das Publikum unangenehm blendet) improvisieren Texte, sprechen ins Mikro. It`s Showtime. „You don`t exist“, sagt der eine, „Wenn ich nett bin, bin ich sehr nett“ sagt die andere bedrohlich. Es sind Sätze wie Peitschenhiebe, und allmählich entgleist die mühsam erhaltene Fröhlichkeit zur Kampfpose. Zum Schluss stampfen die Tänzer in den 80-er Jahre Kostümen von Angelika Rieck fast martialisch mit den Füßen auf dem Boden, die Arme über den Kopf erhoben. Gefangene oder Krieger? „Was wir sehen“, sagt Dramaturg Thorsten Teubl, „entstammt immer unserem biographischen Archiv des Körpers.“ Standing Ovations für einen intensiven Tanztheaterabend.