Der fragmentarisch eine inhaltliche Komplexität ermöglichende Stil Veteranyis erfährt mit der vielstimmigen Erzählerin eine physische Entsprechung, gleichzeitig wird in der Aufsplitterung der Figur auch ihre Verunsicherung deutlich – eine ruhelose Verlorenheit, ständig unterwegs als Zirkusfamilie am Rande der Gesellschaft. Was aber auch eine Flucht vor Festlegungen sein könnte. Vielleicht ein Versuch, sich von unrealisierbaren Ideen wie Heimat und Identität zu schützen.
Groteske Räume erkunden
Die Protagonistin ist jedenfalls geradezu Prototypin einer Migrantin, die weder in ihrer Wahlheimat Schweiz noch bei sich ankommt und immer wieder ins Imaginäre flüchtet – ein Abwehrzauber. Schon im Kleinkindalter verließ sie mit ihren Eltern das diktatorisch regierte, von der Geheimpolizei drangsalierte Rumänien. Ihre träumerischen Erinnerungen machen sich nur noch an den Gerüchen der Gerichte fest, die ihre Mutter kocht, und am Klang der Sprache. Wobei die drei Marburger Schauspielerinnen (neben Rausch noch Anke Hoffmann und Saskia Boden-Dilling) auf Deutsch, die drei Tibliser Gäste (Baia Dvalishvili, Nata Murvanidze und Anano Makharadze) auf Georgisch ihre Sätze gestalten. So lässt sich prima verdeutlichen, dass Mutter und Tochter vergeblich nach einer gemeinsamen Sprache suchen, sie selbst nach ihrer Sprache forscht in all den Sounds, die bei den europaweiten Tourneen ins Ghetto der Zirkuswohnwagenwelt dringen. Dort zerbröckelt auch die Scheinidylle der Familie, die von Angst, Gewalt, sexuellem und alkoholischem Missbrauch geprägt ist. Alle mit der Flucht verbundenen Hoffnungen erweisen sich als Selbstbetrug. „Mein Vater starb an Abwesenheit. Meine Mutter lebt in Ohnmacht … Und Kinder will ich keine“, lautet die Schlussfolgerung. Unstillbar brodelt auf der Bühne daher die Sehnsucht nach einem Ort, an dem sich das Zirkuskind wirklich einmal sicher mit der Wirklichkeit verbinden kann. Wovon ja auch Haratischwilis eigene Romane geprägt sind.
Beeindruckend wie sie mit den sechs Figuren in sechs für sie gestalteten Räumen (Bühne: Julia B. Nowikowa) – die Kinderheimszenen spielen beispielsweise in einer menschenfeindlichen Plastikblase – mit überbordendem Ideenfuror den Kurzszenenreigen auf einer Drehbühne inszeniert und mit welch großem Einfühlungsvermögen sowie gleichzeitig kluger Distanz die unterschiedlichen Perspektiven Veteranyis herausgearbeitet sind. Überzeugend auch die präzise Leidenschaft, mit der das Ensemble zwischen offiziellem Manegelächeln und privater Backstage-Tristesse agiert. Irritierend nur, dass immer mal wieder etwas zu schlicht illustriert wird. Ist vom vorgeburtlichen Leben im Bauch der Seiltänzerin-Mama die Rede, dehnt sich eine Darstellerin mit Embryomaske auf der Bühne, gibt sie die kindliche Nackttänzerin, gaffen und grapschen Gestalten in Schlachterkostümen mit Tiermasken nach ihr. Wird Gott als Totenesser erwähnt, pantomimen die Spielerinnen den Leichenschmaus.
Summa summarum wird der fragile Text überdreht zu satt groteskem, zunehmend verzweifeltem Theater voll surrealer Poesie und existenzieller Wut. Hält aber an den besonders schmerzhalten Momenten berührend inne. Etwa wenn sich die Ich-Figur wünscht, von zwei Männer „gleichzeitig vergewaltigt“ werden zu wollen, anders kann sie sich ihre Entjungferung nach den bisherigen Erfahrungen nicht vorstellen. Dann die Flucht aus dem Notausgang – woraufhin ein Großteil des Publikums ihren Premierenapplaus stehend spendiert.