Foto: Szene mit Maria Bengtsson (Clara), Edgaras Montvidas (Graf Egmont), Bo Skovhus (Herzog Alba) und Akrobaten (SHAD Performance)
© Monika Rittershaus
Text:Roberto Becker, am 18. Februar 2020
Die Idee, Ludwig van Beethoven zu ehren, indem man der Gattung Oper eine Novität hinzufügt, hat Charme. Damit lässt sich im angelaufenen Beethovenjahr 2020 glänzen. So wie es jetzt dem „Theater an der Wien“, an dem der Jubilar einst selbst 1805 als Hauskomponist wirkte, gelungen ist. Am kleineren, kreativeren Wiener Opernhaus gab und gibt es natürlich „Fidelio“ satt. Aber eben auch, wie jetzt, eine Uraufführung. Zu einer Vorlage, für die Beethoven 1810 selbst eine Schauspielmusik geschrieben hat: Zu Goethes „Egmont“ aus dem Jahre 1789. Goethe hin, Beethoven her – als populäres Einzelstück hat nur die Ouvertüre überlebt. Für den opernversierten Komponisten Christian Jost und seinen Librettisten Christoph Klimke stand die Tür also weit offen. Beide gingen mit festem Schritt beherzt hindurch. Wobei im Programmheft ausdrücklich auf die Mitarbeit des Komponisten am Libretto hingewiesen wird.
Wie auch immer die Anteile waren, das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit zitiert weder Beethoven noch Goethe. Der Geist der beiden Heroen, so wie man ihn heute versteht, und ihr Thema genügen. Es gibt keine direkten Zitate oder ein Spiel damit. Wohl aber ein klassisches Beethoven-Orchester für den originären Jost-Ton. Im Theater an der Wien in Gestalt des ORF-Radio-Symphonieorchesters. Ohne Pauke, dafür mit Marimbaphon, Vibraphon, Harfe und Klavier. Bei Klimke ist es der eigene hohe Ton, den der lyrikaffine Librettist seinen Akteueren in den Mund gelegt hat. Alles in deutscher Sprache und mit (fürs Verständnis unentbehrlichen) Übertiteln.
Goethes Personal ist auf den Grafen Egmont und dessen Geliebte Clara, Herzog Alba und Sohn Ferdinand, die Schwester des Königs Margarete von Parma und deren Privatsekretär namens Macchiavell eingedampft. Diesem Mann für alles verleiht Károly Szemerédy finstere Gestalt.
Intellektuell steht ein wortreiches Duell zwischen Alba und Egmont im Zentrum. Hier die pure Macht, die keine Begründung als sich selbst braucht. Da der unerschütterliche Glaube an das Gute und die Freiheit. Als Figur ist der Bösewicht – wie so oft in der Oper – sehr viel stärker profiliert, als sein Gegenspieler. Mit Bo Skovhus wird Herzog Alba obendrein von einem der charismatischsten Sängerdarsteller mit eiskalter Präsenz verkörpert. Er steht so sehr im Zentrum, dass das Ganze auch Alba und nicht Egmont heißen könnte. Hinzu kommt, dass Edgaras Montvidas in der Titelpartie, deren blasse Zeichnung nicht wirklich ausgleichen kann. In dem zentralen Duell der beiden schleudert König Philipps diabolische personelle Wunderwaffe Egmonts „Freiheit zuerst“ sein „Zuerst der König, die Kirche, Spanien zuerst“ entgegen. Bei diesem „Spanien zuerst“ und dem Credo Albas „Allein das Recht des Stärkeren gilt. Vernichten, dass etwas entsteht, ist meine Politik.“ merkt man, dass Klimke auch für den Tanztheaterrecken Johann Kresnik einst die Libretti geschrieben hat.
Albas Sohn Ferdinand (als Hosenrolle Theresa Kronthaler) ist zwischen dem Vater und der Faszination Egmonts hin- und hergerissen. Wenn er am Ende die Pistole nicht auf Egmont, sondern auf seinen Vater richtet, dann folgt Regisseur Keith Warner der Utopie einer Hoffnung, die auch durch ein Geschehen schwebt, bei dem die dunkle Seite der Macht über die überzeugenderen Waffen verfügt.
Die Ausformung der Charaktere, die versuchen, gegen die Macht der Fakten anzukämpfen und nach Kompromissen zu suchen, gehört zu den interessanten Seiten des Ganzen. Das geht von der berühmten, in allen Diktaturen gängigen Ausrede der Opportunisten „Wenn das der König wüsste!“ bis hin zu dem Versuch, Kompromisse und Ausgleich zu suchen, wie bei Egmont und Margarete. Er als Vertreter der gegen die Fremdherrschaft rebellierenden Niederländer. Und sie als die Schwester des Königs und offizielle, aber verständigungsbereite Statthalterin in den Niederlanden. Die Ermordung Margaretes durch Alba persönlich (Angelika Kirchschlager scheut auch die deftigen Seiten dieser Frau nicht) gehört zu den stärksten Szenen der in sich geschlossenen und wirkungsmächtigen Inszenierung. Zusammen mit seinem Ausstatter Ashley Martin-Davis liefert Warner eine atemberaubend stringente Szene, die Abstraktion und Opulenz instinktsicher verbindet.
Der Sog der Drehbühne, die mit schräg überzeichneten Käfigen mühelos zwischen angedeuteten Räumen (ob Zelle, Schlafzimmer oder Folterkammer) wechselt und doch auf ihrer Autonomie besteht, ist so unerbittlich wie Josts Musik, die gleichsam wie Lava unter den Stimmen wabert und mit Ausbruch droht. Oder zu der man sich den zermalmenden Gleichschritt von Albas Truppen vorstellen kann. Dazu spielt die Inszenierung mit Artisten, die sich wie fallende Engel aus dem Schürboden abseilen oder mit gefalteten schwarzen Kranichen, die im Sturzflug auf die Erde wie eingefroren verharren. Zu dieser Poesie des Schreckens gehören auch die Engelsflügel mit denen Clara (Maria Bengtsson darstellerisch hochpräsent und mit betörend sicheren Spitzentönen) am Ende ihren geliebten Egmont umschließt. Ein Bild, bei dem man durchaus an Florestans „Mein Engel Leonore“ aus Beethovens „Fidelio“ denken kann. Nur, dass es hier keine Rettung auf Erden durch ein Trompetensignal und die helfende Hand eines Ministers gibt.
Michael Boder hält die wuchtig donnernde Opulenz der Finsternis im Graben imponierend zusammen. Er sorgt gleichwohl dafür, dass die Protagonisten und der fabelhaft von Erwin Ortner einstudierte Arnold Schoenberg Chor Raum zur Entfaltung haben. Einhellige Zustimmung für alle Beteiligten zu einem beeindruckend packenden Wurf.