Szene aus "Blackbird"

Was nicht sein darf ...

David Harrower / Monica Isakstuen: Blackbird / Sieh mich an, wenn ich mit dir rede

Theater:Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau, Premiere:02.04.2022 (DSE)Regie: Patricia Hachtel / Lisa Pauline Wagner

Hat er sie verführt? Oder doch sie ihn? Sie war 12, er verheiratet. Missbrauch war es in jedem Fall, darüber wenigstens sind beide sich einig – viele Jahre später. Alles Übrige aber bleibt zwischen ihnen unklar, vieles unausgesprochen, einiges vergessen oder tief vergraben. Mit David Harrowers Dramas „Blackbird“ kam das ruppig-berührende Psychogramm eines lange tabuisierten Themas auf die Zittauer Bühne. Doch unter dem reißerischen Titel „Nacht der verborgenen Begierden“ hängte man noch ein eher verunglücktes Mutter-Sohn-Stück dran.

Die Szene, die Sven Hansen entworfen hat, ist auf der Hinterbühne beide Male die gleiche: Ein Stahlrohrraum auf einem Podest, für „Blackbird“ mit Kopierer, McDonald‘s-Tüten, Müllsack und einem Notausgang-Schild versehen. So gehört sich das in einem Büro. Dort überrascht die junge Una (Alexandra Kienitz) spätabends den viel älteren Ray, der nun Peter heißt (Marc Schützenhofer). Doch der hat mehr zu verbergen als eine Haftstrafe: Er hat mit der damals 12-jährigen Nachbarstochter geschlafen. Das ist unstrittig und so beginnt David Harrowers kluges, vielschichtiges Stück erwartbar: Sie ist die Rachegöttin, er baut eifrig Mauern um sich. Sie will von sich reden, er möglichst gar nicht, schon gar nicht von Frau und Kind. Doch ganz allmählich bekommen die Fassaden Risse, werden Mauern Stein für Stein abgetragen. Dem mühsamen Eingeständnis folgen Fragen, Erinnerungen, auch an streng verbotene Gefühle. Regisseurin Patricia Hachtel bringt das mit ihren Akteuren gradlinig, direkt und nachdenklich zugleich an das Publikum heran.

Und wenn der Autor seine Figuren (sich) fragen lässt, ob Una vielleicht doch geflirtet, gewollt hat, was dann kam – dann ist das in dieser Inszenierung nicht der Macho-Spruch „Du willst es doch auch!“ sondern das Herantasten, ob nicht doch sein kann, was nicht sein darf. Beide Darsteller spielen das weitgehend überzeugend: Ray im legeren Büro-Look, Una fest umschlossen von Mantel und Stiefeln. Er spricht häufig mit körperlichen Signalen, windet sich, verkrampft, klammert. Sie redet sich vieles von der verletzten Seele, bis sie sich sehr widerstrebend eingesteht: Auch seine Erinnerung könnte ein Teil der Wahrheit sein. Nur den langen Monolog gegen Ende, wenn beide sich in ihrer jeweiligen Zimmerecke gegenüber sitzen, kann Alexandra Kienitz nicht wirklich gestalten; Marc Schützenhofer nur mit Blicken reagieren. Eines aber wird deutlich: So leicht wie der Papierflieger, den Una aus dem Kopierer zaubert, werden beide nie wieder sein.

Unnötige Erweiterung

Danach bläht eine 50-Minuten-Pause, die der Band „Mary, Phil and the Lust Boys“ gehört, den Abend auf insgesamt dreieinhalb Stunden. Was dann, als Deutschsprachige Erstaufführung der norwegischen Autorin Monica Isakstuen, folgt, ist wenig erhellend. Denn unter dem klassischen Straf-Erziehungssatz „Sieh mich an, wenn ich mit dir rede“ geht es, in wiederum 80 Minuten, um Mütter und Söhne, was sie wollen und fühlen, aber nicht sollen. Darf „Mein Sohn“ (Paul-Antoine Nörpel) schon wie ein Mann fühlen und handeln – oder hat er sich dem ewigen „Schlaf, Kindchen, schlaf“ der Mama zu fügen. Darf die aus dem Stillen des Sprösslings eine andere Befriedigung ziehen als die Sättigung des Säuglings? Um nichts anderes und nicht mehr drehen sich Stück und Lisa Pauline Wagners Inszenierung.

Der nun mit unzähligen Plüschtieren gefüllte Bühnenkäfig wird schnell zur engen Familienhölle: Söhnchen nuckelt und rupft an Luftballonzitzen, probiert, was man mit Kuscheltieren so alles treiben kann. Die Mutter (Sabine Krug) schwankt zwischen Entsetzen und Verboten – und wird dann zur Tochter, die mit dem (eigentlich schon toten) Vater über ganz Ähnliches redet. Da tauschen Sabine Krug und Paul-Antoine Nörpel, beide in sportiven Alltagskleidern, dann zwar Alter und Rollen, nicht aber das Thema. Doch Isakstuens Text bleibt eine ungute Mixtur aus Küchenpsychologie und falsch verstandenem Freud. Dagegen hilft nicht mal ausgiebiges Teddybärenwerfen, weder Komik noch Einsichten wollen da aufkommen.