Ensembleszene

Von Fassaden und Abgründen

Thomas Adès: The Exterminating Angel

Theater:Salzburger Festspiele, Premiere:28.07.2016 (UA)Regie:Tom CairnsMusikalische Leitung:Thomas Adès

Eine elegante Gesellschaft trifft sich nach einer Opernpremiere zum Dinner in der Villa von Edmundo und Lucía de Nobile. Man plaudert und scherzt, flirtet und küsst. Obwohl die Türen offen stehen, kann niemand das Haus verlassen. Eine magische Kraft hält sie zurück – und sorgt auch dafür, dass der entspannte Abend zu einem Horrortrip wird. Die Fassade fällt. Der unerbittliche Kampf ums Überleben lässt alles Kultivierte vergessen. In seinem surrealistischen Film „El ángel exterminador“ (Der Würgeengel) aus dem Jahr 1962 beschäftigte sich Luis Bunuel einmal mehr mit den Bourgeoisie und ihren Abgründen. Den Schwarz-Weiß-Streifen hatte Thomas Adès schon als Kind gesehen, weil seine Mutter als Kunsthistorikerin beruflich viel mit Surrealismus zu tun hatte. Seit fünfzehn Jahren beschäftigte sich der englische Komponist mit dem Vorhaben, daraus eine Oper zu machen, die nun, noch von Vorgängerintendant Alexander Pereira in Auftrag gegeben, bei den Salzburger Festspielen im nicht ausverkauften Haus für Mozart ihre stark beklatschte Uraufführung erlebte. Thomas Adès und sein Librettist Tom Cairns, der gleich die Inszenierung mitliefert, halten sich bei „The Exterminating Angel“ eng an die Filmvorlage. Nur das ausufernde Personal streicht Adès auf immer noch stattliche fünfzehn Figuren zusammen. Das Glockengeläut aus dem Film taucht in der Oper am Anfang und Ende auf, um der Geschichte Zeitlosigkeit zu verleihen. Aber auch kompositorisch bezieht Adès in seiner dritten Oper filmische Techniken mit ein, wenn er scharfe Schnitte setzt oder blitzartig mit dem Register auch die Perspektive wechselt. Das unter seiner Leitung stehende ORF-Radiosymphonieorchester Wien switcht mühelos zwischen intimem kammermusikalischen Ton und plötzlichem extrovertiertem Ausbruch. Das Schnarren des Kontrafagotts und das Grummeln der häufig gedämpften Basstuba sorgen für subkutane Verunsicherung.  Die übersinnliche Kraft, die die Personen am Weggehen hindert, macht Adès durch die Ondes Martenot (Cynthia Millar) hörbar. Das frühe elektronische Instrument, das häufig von Olivier Messiaen eingesetzt wurde, klingt wie eine singende Säge und lockt wie die Sirene der griechischen Mythologie zum Verweilen. Das hat durchaus Reiz, wirkt aber zum Teil plakativ, wenn das Instrument gleich einer Alarmanlage das Gehen der Personen stoppt.

Hildegard Bechtler (Bühne und Kostüme) hat für das surrealistische Drama einen realistischen Raum gebaut, der im Stil der 60er Jahre Teakholzwände mit schweren Sitzgruppen und Marmorboden kombiniert. Hier empfangen Edmundo de Nobile (in der Höhe überfordert: Charles Workman) und seine Frau Lucía (mit viel Pathos: Amanda Echalaz) die illustre, elegant gekleidete Festgesellschaft, darunter die Primadonna Leticia Maynar (mit kristallinem, in den eisigen Höhen auch scharfkantigem Sopran: Audrey Luna) und ihr dirigierender Gatte Alberto Roc (solide: Thomas Allen). Hier wandeln sich Nettigkeiten in Gehässigkeiten. Der künstliche, mit viel Vibrato versehene Opernton wird dabei auch als Karikatur verwendet. Alles ist theatralisch aufgeladen. Leider zerfällt die kleinteilige Musik zumindest im ersten Akt in ihre Bestandteile. Ein Spannungsbogen ist kaum spürbar. Nur in einzelnen Szenen wird das Geschehen musikalisch durchdrungen, wenn ähnlich wie in Maurice Ravels „La Valse“ ein gedehnter, mit Dissonanzen angereicherter Walzer die hier müde Dekadenz zelebriert und deren Untergang schon andeutet.

Die innere und äußere Verwüstung, die Bunuel im Film zeigt, wird szenisch kaum nachempfunden. Dem Überlebenskampf im zweiten Akt – inzwischen ist eine Wasserfontäne aus dem Boden geschlagen – fehlt die Zuspitzung. Zumindest die Musik härtet Adès durch Schlagzeug. Für die Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs hat er endlose Koloraturen geschrieben. Erst im dritten Akt beginnt der Komponist zu zaubern. Endlich entfaltet seine Musik eine Sogwirkung, der man sich kaum entziehen kann. Gerade die zurückgenommenen Szenen wie die von einer Gitarre begleitete Arie der Leonora, die die überragende Anne Sofie von Otter mit dunklen Farben wärmt, hat ebenso einen existentiellen Tonfall wie die sich überlappenden orchestralen Schichten, die Adès mit großer Meisterschaft zusammenführt. Aber auch die mit Ostinati arbeitenden, großen Orchesterausbrüche sind beklemmend in ihrer Wucht und Fokussierung – grandios umgesetzt durch des ORF-Radiosymphonieorchester. Im guten, ausgeglichenen Solistenensemble setzen der britische Bass John Tomlinson als dominanter Doctor Carlos Conde, Sally Matthews als hysterisch-brillante Silvia de Ávila und Christine Rice in der hochdramatisch gestalteten Partie der Pianistin Blanca Delgado die stärksten Akzente. Aber auch Iestyn Davies (Francisco de Ávila), Frédéric Antoun (Raúl Yebenes) und David Adam Moore (Colonel Álvaro Gómez) hinterlassen Spuren. Am Ende gelingt der Gesellschaft doch noch der Ausstieg durch den brillanten Gesang von Audrey Lunas Leticia. Alle schreiten vorsichtig durch das große Holztor. Und der Salzburger Bachchor summt dazu, ehe heftig Schlagzeugattacken und scharfes Blech die zarten, von Glocken umspielten Klänge beenden und die Oper regelrecht abschneiden.