Szene aus "Through my Eyes"

Vom Individuum zum Ensemble

Xenia Wiest: Through my Eyes

Theater:Mecklenburgisches Staatstheater, Premiere:04.03.2022 (UA)Regie:Xenia WiestMusikalische Leitung:Mark RohdeKomponist(in):Johannes Brahms

Natürlich ist das X im Namen der Kompanie Ballett X Schwerin erklärungsbedürftig. Sicher, es könnte  auf den Namen der Choreografin verweisen, die seit dieser Spielzeit die Tanzsparte am Mecklenburgischen Staatstheater leitet: Xenia Wiest. Das X, so erfährt man aus dem „MMagazin #1“ des Hauses, steht indes als Variable in der Mathematik für etwas Programmatisches: „das zu Definierende“ – und meint damit nichts anderes als einen „Möglichkeitsraum, den es zu füllen gilt“.

Zum Beispiel in „Through my Eyes“. Mit dem Ballettabend will uns Xenia Wiest die fünfzehn Mitglieder in ihrer Unterschiedlichkeit vorstellen will – gesehen allerdings mit ihren Augen. Das heißt in diesem Fall: mit den Augen einer Choreografin. „Charaktere“ nennt sich der erste, knapp eine halbe Stunde dauernde Teil, getanzt zu „Drei Intermezzi für Klavier“ und den „Klavierstücken“, op. 76 von Johannes Brahms. Florian Uhlig spielt sie, Meisterpianist und Artist in Residence der Mecklenburgischen Staatskapelle Schwerin, und er spielt sie freischwebend in einem Guckkasten hoch über den Köpfen der Tänzer und Tänzerinnen. Mehr als einmal blicken sie zu ihm auf, als wollten sie ihm und damit der Musik Tribut zollen. Die Kompositionen geben schließlich den Rahmen vor für eine Choreografie, die zwar stets Raum lässt für individuelle Bewegungsgestaltung, die Danse d’école indes nie verleugnet, in deren Tradition die gebürtige Russin als Absolventin der Stuttgarter John-Cranko-Schule und langjährige Solistin des Berliner Staatsballetts groß geworden ist.

Überaus klar sind die Konturen ihrer Choreografie, nicht zuletzt betont auch durch ganz zurückgenommene Kostümierung von Melanie Jane Frost. Nichts soll ablenken, und einer nach der anderen stellt sich in seiner Eigenart vor, ohne das Gesamtbild infrage zu stellen. Im Gegenteil: So individuell die einzelnen Armbewegungen auch sein mögen, sie erregen immer wieder die Aufmerksamkeit der anderen. Mehr als einmal wird ein Tanzimpuls von einem Körper auf den anderen weitergegeben, als wollte man bei aller Unterschiedlichkeit gerade das Gemeinschaftsgefühl nicht in Frage stellen.

Zwei Seiten der Kompanie

Das ist letztlich auch beim zweiten Teil nicht viel anders, auch wenn die Choreografin (der Archetypen-Lehre von C. G. Jung folgend) ihr Ensemble in „Magier“ und „Schöpfer“ teilt. Die „Magier“ sind hier diejenigen, die wie in einem Ballett von Uwe Scholz alles Technische überspitzen. Die „Schöpfer“ dagegen stehen, so der Erklärungsversuch der Dramaturgin Patricia Stöckemann, „in erster Linie für Kreativität, Experimentierfreude und Erfindungsgeist“. Die macht Xenia Wiest auf flacher Sohle sichtbar, mit unorthodoxen Bewegungen und einer Flexibilität der Gesten, die nicht ohne Eindruck bleiben. Schließlich haben es die Tänzer und Tänzerinnen ja nicht auf Konfrontation angelegt, sondern auf ein Miteinander, bei dem der eine vom anderen profitiert.

Und so gestaltet sich das Procedere überaus pointiert, wenn auch allzu vorhersehbar als eine Abfolge von Duos, Trios, Quartetten und Ensembles, bei denen die gegenseitigen Bewegungsangebote freudig, um nicht zu sagen: liebevoll angenommen werden. Das passiert immer vor dem Hintergrund einer Musik, die bei dieser Aufführung am Ende fast etwas Haptisches hat. Bühnenbildner Otto Bubenícek hat die Mecklenburgische Staatskapelle sicht- und vor allem hörbar auf der Bühne platziert – und so wie GMD Mark Rohde das 1. Klavierkonzert von Johannes Brahms dirigiert, durchdringt der Klang jeden Körper. Kein Wunder also, wenn die Tänzer und Tänzerinnen an diesem Abend über sich hinauswachsen und einen neugierig machen auf alles Kommende. Im Zeichen des X scheint alles möglich.