Im Hintergrund reist ein riesiger Wal bedrohlich sein Maul auf. Davor stehen drei Spieler:innen, die ebenfalls Walköpfe tragen.

Der rote Wal

Vivan Bhatti, Ketan Bhatti: Der rote Wal

Theater:Staatsoper Stuttgart, Premiere:18.06.2025 (UA)Autor(in) der Vorlage:Markus Winter, Martin G. BergerRegie:Martin G. BergerMusikalische Leitung:Marit StrindlundKomponist(in):Vivan Bhatti, Ketan Bhatti

An der Staatsoper Stuttgart wird „Der rote Wal“ uraufgeführt. Das „deutsche Herbstmärchen“ auf ein Libretto von Markus Winter arbeitet sich besonders an der RAF ab und bedient sich dabei munter bei der europäischen Literaturgeschichte. Unterfüttert ist alles mit einem abwechslungsreich-unterhaltsamen Musikmix.

Stuttgart und die RAF haben ein besonderes Verhältnis. Im Stadtteil Stammheim fanden in der dortigen JVA von 1975 an die Prozesse gegen die Mitglieder der ersten Generation der Terrorgruppe statt. Drei davon nahmen sich im Oktober 1977 dort das Leben. Spuren der RAF finden sich in der ganzen Stadt und auch das Staatstheater war damals involviert, weil der Schauspiel-Intendant Claus Peymann einen Spendenaufruf für eine Zahnersatzbehandlung von Gudrun Ensslin aushängte und dafür vom damaligen Ministerpräsidenten Hans Filbinger unter Druck gesetzt wurde. Diesen Spuren geht jetzt in Stuttgart nicht nur das Haus der Geschichte, sondern auch das Staatstheater nach und veranstaltet Führungen, Lesungen und Workshops.

Eine Oper für Stuttgart

Anlässlich des Jubiläums hat die Stuttgarter Staatsoper ein Stück in Auftrag gegeben, das die RAF-Geschichte in die Gegenwart holen soll. Bereits Titel und Untertitel weisen auf einen verschlungenen Weg. Da wird zum einen ein Meeressäuger in Verbindung mit einer politisch konnotierten Farbe gebracht, zum anderen eine Zeit des politischen Terrors, also der Herbst 1977, mit einem literarischen Genre, dem Märchen, das fantastisch-wunderbare Begebenheiten behandelt. Aber auch Heinrich Heines „Wintermärchen“ ist ja durchaus politisch.

Der als Rapper bekannte Stuttgarter Maeckes, mit bürgerlichem Namen Markus Winter, hat kein Dokumentartheaterstück geschrieben, sondern ein Libretto, das eine Reise durch Zeit und Raum ist. Was als Ausflug einer Schulklasse ins Theater beginnt, geht im ersten Akt über in die Tiefen des Meeres. In einer Walschule erzählen die Wallehrer vom Leviathan, wobei die junge Walschülerin Gladis, die sich vom Bootsverkehr des Öfteren schon gestört fühlte, aber fehlt.

Der Techbillionär Lone – Elon Musk lässt grüßen – ermöglicht es ihr, für einen Tag menschliche Gestalt anzunehmen – alle Wassernixen lassen grüßen. Der Wal Gladis findet sich als menschliche Isi auf der Erde, gerät in eine Demonstration, lernt dort Abad (also Andreas Baader) und Ge (also Gudrun Ensslin) kennen und steht schließlich als Terroristin Ulrike auf der Fahndungsliste der Polizei. Zurück ins Meer will sie aber auch nicht mehr, entscheidet sich für den Kampf im Untergrund. Dann fühlt sie sich erst von Abad, danach von Ge und deren Vorschlag, doch das ganze Opernpublikum als Geisel zu nehmen, abgestoßen und ruft den Leviathan zu Hilfe, der die Ordnung schließlich wiederherstellt.

„Guksch, ge, dass du net glei die Segel setzsch“

Regisseur Martin G. Berger, der die Geschichte gemeinsam mit Markus Winter erfunden hat, lässt die Inszenierung im Foyer beginnen. Von dort überträgt er das Geschehen auf den Bühnenvorhang, bevor die Handlung auf die Bühne selbst verlegt wird. Mal sind wir unter Wasser, was durch Projektionen (Video: Vincent Stefan) und Kostüme (Alexander Djurkov Hotter), große und kleine Fische angedeutet wird, mal in von Monitoren gesäumten Verhörräumen. Kostüme und Bühne (Sarah-Katharina Karl) verwandeln sich permanent, analog zu Text und Musik. Die verschiedenen, gar nicht so komplexen Erzählebenen sind dadurch nicht mehr zu trennen. Räume tauchen aus dem Nebelmeer auf, verschwinden wieder, sind nicht immer eindeutig zu identifizieren, werden aufgebrochen, indem die vierte Wand fällt, oder angedeutet wie das elterliche Bad Canstatter Pfarrhaus Gudrun Ensslins. Und trotzdem bleibt die Geschichte fasslich, nachvollziehbar, unterhaltsam. Nur die textliche Umsetzung ist vor allem des Jugendslangs und des schwäbischen Dialektes wegen anbiedernd-banal.

Von Bernstein bis Lachenmann

Das Komponistenbrüderpaar Bhatti bedient sich schamlos an allem, was die Musikgeschichte hergibt: beim Jazz, beim Rock, beim Musical und bei der Klassik. Mal klingt das wie Leonard Bernstein, mal wie Helmut Lachenmann, dann nach neuer Sachlichkeit und dann wieder nach süffiger Spätromantik. Und weil der Rap die Musik der Hip-Hop-Protestbewegung der 1970er Jahre war, wird rhythmisch gesprochen, gesungen und gerappt, was das Zeug hält. Das ist munter, das geht runter und ist leicht verdaulich. Einen doppelten Boden hat die Musik nicht. Sie hinterfragt nicht, stört nicht – außer, wenn sie zu laut ist. Sie ist bebildernd, verdoppelnd, illustrierend, aber handwerklich gut gemacht.

Marit Strindlund und das Stuttgarter Staatsorchester haben hörbar gute Laune. Sie entwickeln ihren eigenen Groove, klingen wie Rockband und Symphonieorchester in einem. Gesungen wird mit Mikroports, was nicht schön ist, aber geil und laut. Die Opernsängerinnen und -sänger, vor allem Matthias Klink als Abad und Josefin Feiler als Ge, nehmen sich etwas zurück, während sich Madina Frey als Isi bzw. Gladis richtig reinhängt. Doch die Musical- und Opernstimmen passen nicht recht zusammen. Freys monochrome Stimme ist auf die Dauer etwas aufdringlich. Der von Manuel Pujol einstudierte Staatsopernchor donnert von allen Seiten ordentlich rein.

Großer Jubel am Ende, vielleicht auch, weil ein Stück schmerzlicher Geschichte nicht wehgetan hat. Weil die Bhattis musikalisch nicht zu tief gebohrt haben, Markus Winter ein bunter Erzähler ist und Martin G. Berger sein Regiehandwerk versteht.