Foto: Zwei Teams im Wettkampf gegen die Zeit: ”South Pole" von Miroslav Srnka © Wilfried Hösl
Text:Georg Rudiger, am 1. Februar 2016
Ein Polarzelt steht im Regen auf dem Max-Joseph-Platz. Wenn man die Stufen zum Münchner Nationaltheater hinaufgeht, hört man ein Rauschen, Klirren und Schaben – eine Klanginstallation von Moritz Gagern, die auf originale Tonaufnahmen aus der Antarktis zurückgreift. Schon beim Ankommen soll der Zuhörer auf die musikalische Polarexpedition vorbereitet werden. Selten gab es so viel Presserummel im Vorfeld einer Uraufführung wie bei Miroslav Srnkas „South Pole“ in Starbesetzung. Die vier Folgevorstellungen im Februar sind bereits ausverkauft. Die Geschichte über die Entdeckung des Südpols im Dezember 1911, der Wettlauf zwischen dem Norweger Roald Amundsen und dem Engländer Robert Falcon Scott, der die Herausforderung nicht überlebte, ist schon ohne Musik spannend.
Srnkas Oper (Libretto: Tom Holloway) setzt auf der zweigeteilten Bühne mit dem Telegramm ein, mit dem Amundsen das Rennen um den Südpol eröffnet. „Beg leave to inform Fram proceeding Antarctica“ – erlaube mitzuteilen, Fram hält Kurs auf die Antarktis. Thomas Hampson (Amundsen) morst in Tonwiederholungen und Halbtonwechseln diese Botschaft an Rolando Villazón (Scott), dem der Schrecken ins Gesicht geschrieben steht. Der tschechische Komponist (Jahrgang 1975) beginnt seine Oper gesanglich experimentell. Um dann allerdings in den nächsten zwei Stunden auf die große Kantilene zu setzen. Auch Emotionen zwischen Angst und Wut, Liebe und Sehnsucht werden in den beiden Forscherteams konventionell artikuliert. Dafür sorgt das Bayerische Staatsorchester unter der klaren, unaufgeregten Leitung von Kirill Petrenko für Grenzerweiterungen. Srnka hat versucht, die Temperatur der Klänge in den Minusbereich zu führen, der unwirtlichen Antarktis einen Klang zu geben. Die Streicherapparat ist vielfach geteilt. Es wird mit viel Bogengeräusch und wenig Vibrato musiziert. Flageoletts, Glissandi und gehauchte Trillerfiguren lassen die Kälte klirren. Trotz der vielen Liegeklänge in den Bläsern gibt es in den Mikrostrukturen der Partitur eine ständige Unruhe, die immer mal wieder in großen Ausbrüchen kulminiert. Des Blech ist häufig gedämpft. Im Schlagzeug werden Metallinstrumente bevorzugt. Das ist alles kunstvoll und innovativ, aber eben auch verkopft und überdifferenziert. Man kann die auch rhythmisch hochkomplexe Gestaltung hörend kaum nachvollziehen. Eine Reizüberflutung, die auf Dauer abstumpfen lässt. Und kaum Sogwirkung erzielt. Dem enormen Aufwand steht ein zu geringer Ertrag gegenüber. Das Orchester führt über weite Passagen ein Eigenleben. Und hat nur wenig zu tun mit dem Gesang. Die Besetzung der Forscherteams nach Stimmlagen – Tenöre bei Villazóns eindimensionalem Scott (Dean Power, Kevin Conners, Matthew Grills, Joshua Owen Mills) und Baritone bei Hampsons virilem Amundsen (Tim Kuypers, John Carpenter, Christian Rieger, Sean Michael Plumb) – ist höchstens dramaturgisch interessant. Musikalisch fehlt es hier an stimmlicher Individualität.
Szenisch herrscht mehr Klarheit. Die musikalische Symmetrie der beiden Expeditionsgruppen spiegelt sich auch im weißen Bühnenbild von Regisseur Hans Neuenfels und Katrin Connan. Eine Linie in der Mitte trennt die Teams. Jede Gruppe ist für sich – und doch ist die andere immer da. Das schwarz markierte Kreuz, wo sich im Hintergrund die beiden Diagonalen treffen, ist das Ziel, dem beide entgegenstreben. Auch die schwarzen (Team Scott) beziehungsweise grauen (Team Amundsen), an der Originalausrüstung orientierten Kostüme von Andrea Schmitt-Futterer unterstützen die Polarität am Pol. Am stärksten ist der Abend, wenn mit der ausdrucksstarken Mezzosopranistin Tara Erraught (Kathleen Scott) und der bis in eisige Höhen kristallin singenden Sopranistin Mojca Erdmann (Landlady) andere Farben hinzukommen. Oder wenn die dauerbewegte Musik Miroslav Srnkas innehält und an Fokus gewinnt wie in der starken Tötungsszene des ersten Teils, wenn die Männer die durch Statisten dargestellten Ponys und Hunde schlachten und die Pistolenschüsse vom Schlagzeug abgefeuert werden, ehe ein orchestraler Tinnitus die Stille danach unerträglich werden lässt.
„Doppeloper“ hat Srnka sein Werk genannt, da die beiden Geschichten parallel ablaufen. Im zweiten Teil driften sie schmerzhaft auseinander. Während Amundsen mit seinen Männern den Erfolg ausgelassen feiert, kämpft das Team Scott bei der Rückkehr ums Überleben – und verliert. Als letzter stirbt Scott selbst, dessen Agonie Villazón umzusetzen versucht, aber dabei wie in der gesamten Rollenzeichnung wenig berührt. Das Premierenpublikum ist begeistert, der Komponist sichtlich bewegt. Nur das Polarzelt im Regen wirkt ähnlich verloren wie diese aufwändige Produktion.