Foto: Daniel Hoevels und Sandra Gerling in "Revolution" am Deutschen Schauspielhaus Hamburg © Maris Eufinger
Text:Dagmar Ellen Fischer, am 14. Mai 2022
Aufrecht steht Michail an der Rampe, doch sein Schatten straft ihn Lügen: Die Beleuchtung bewirkt, dass er auf der Bühnenrückwand nur bis zum Hals aufwärts ein senkrechtes Schattenbild wirft. Der Schatten seines Kopfes hingegen erscheint abgeknickt, weil er oberhalb auf die Bühnendecke projiziert wird. So erinnert das schwarze Abbild an einen Gehängten und erzählt als überlebensgroßes Double mehr über die Person als der lebendige Mensch im Vordergrund: Michail ist eigentlich längst tot, und sich gerade machen, das kann er schon lange nicht mehr.
Der Protagonist in Viktor Martinowitschs „Revolution“ ist dennoch ein schillernder, weil widersprüchlicher Charakter. 2017 erschien der Roman des Autors aus Minsk, an dem er zwölf Jahre arbeitete. Doch nicht in seiner Heimatstadt lässt Martinowitsch seine Hauptfigur Michail agieren, sondern in Moskau zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Dort verstrickt sich der unbedarfte Architekturprofessor im geschickt ausgelegten Netz einer Geheimorganisation, die sich mit Mafiamethoden ein Schattenreich aufgebaut hat: Sogenannte Freunde erweisen sich gegenseitig unterschiedlichste Gefallen – lauter Angebote, die man nicht ablehnen kann. Mit einem fingierten Autounfall fängt es an, und um sich aus dieser vermeintlichen Schuld freizukaufen, gerät Michail in die Abhängigkeit der Geldgeber. Was folgt, sind von ihm zu verübende Auftragsmorde, und im gleichen Maß, wie diese an Brutalität zunehmen, nimmt Michails Widerstand gegen sie ab. Belohnt wird er mit einem Luxusleben und einer steilen Karriere.
Fehlender Ernst
Den 400 Seiten starken Roman wandelt Regisseur Dušan David Pařízek am Deutschen Schauspielhaus Hamburg in eine dreistündige Inszenierung. Großartige, eindringliche Bilder stehen neben Szenen, die unmotiviert in Slapstick abrutschen. Dass die in ausgestopften Muskeljacken steckenden Handlanger des Mafia-Bosses der Lächerlichkeit preisgegeben werden, ist nachvollziehbar und hat einen hohen Unterhaltungswert. Doch werden eben auch Themen in einer Grundsätzlichkeit verhandelt, die keinen Entertainment-Faktor als Subtext bräuchten. Zum Beispiel die Leugnung, dass es jemals Gulags in der Sowjetunion gab, oder Aussagen wie „In Moskau kannst du jemanden auf offener Straße umbringen, wenn du danach ins richtige Auto steigst.“
An Michails Beispiel wird die Verführ- und Korrumpierbarkeit eines Mannes exemplarisch nachvollziehbar vorgeführt. Zwar treibt ihn auch die Angst um, doch letztlich entscheidet er sich selbst für die Unterwerfung unter gut organisierte Machtstrukturen – und findet es gar nicht so unangenehm, dass andere sein Leben lenken. Für den Chef der verbrecherischen Organisation stand zweifellos Putin Pate – Buch und Theaterabend bekommen eine geradezu gruselige Aktualität.
Die Ästhetik zwischen Purismus und Comic ergibt eine publikumswirksame Mischung, die durch die Live-Musik aus Folk-, Techno- und Popsound unterstützt wird. Der belarussische Autor Viktor Martinowitsch (Jahrgang 1977) lebt nach wie vor in Minsk. Doch weder werden seine Theaterstücke aufgeführt, noch seine Bücher verlegt. Menschen aus seiner unmittelbaren Umgebung verschwinden oder verlieren ihren Job. Und im Angriffskrieg gegen die Ukraine spielt Weißrussland eine mehr als zweifelhafte Rolle. Vom Rückgrat des Autors hätte sich der Regisseur gern deutlicher inspirieren lassen dürfen.