Foto: Szene mit Benét Monteiro (M.) als Hamilton © Johan Persson
Text:Andreas Falentin, am 6. Oktober 2022
Was für eine Energie! Diese Show fängt auf ganz hohem Level an und hält diesen bis zum Ende. Es gibt keine Höhe- oder Ruhepunkte, keine Durststrecken, es geht einfach immer weiter. Dabei wird, mit den Mitteln des Musicals, gnadenlos direkt erzählt. Diese Mittel werden aber nicht ausgestellt. Es gibt keine klassischen Schauwerte, kein Effekt-Spektakel. David Korins hat die Bühne lediglich mit einem schlichten Holzgerüst umbaut, mit einer Hauswand als Abschluss und einem Steg auf halber Höhe. Dazu gibt es eine Drehscheibe, die nur gelegentlich mit Requisiten, mit Tischen und Stühlen bestückt ist. Ansonsten erleben wir einfach Menschen im Raum.
Wer war Alexander Hamilton?
Alexander Hamiltons Porträt ziert den US-amerikanischen Zehn-Dollar-Schein. In Deutschland wissen die meisten Menschen nicht, wer er war. „Hamilton“ erzählt, natürlich nicht zu 100 Prozent historisch, seine Geschichte als Zentrum eines oft angenehm ironisierten Gründungsmythos. Da kommt ein junger Mann von einer karibischen Insel, will Karriere machen und ist ganz wild darauf, dafür zu kämpfen. Er trifft Gleichgesinnte, wird von George Washington gefördert, verliebt sich, zieht in den Krieg, hat Erfolg. Pause. Jetzt gibt es die Vereinigten Staaten von Amerika. Aber die enthusiastischen, säbelrasselnden jungen Männer haben es nicht bis hierher geschafft. Bis auf Hamilton, den ersten amerikanischen Finanzminister. Ihm treten jetzt echte Karrieristen entgegen, die zur Macht wollen, ohne offen um sie zu kämpfen, Leute wie die späteren Präsidenten Thomas Jefferson und James Madison. Und auch Hamilton verliert die Bodenhaftung, kungelt und intrigiert, betrügt seine Frau, gibt seinem Sohn einen arroganten Rat, der zu dessen Tod im Duell führt und stirbt schließlich selbst im Duell gegen seinen lebenslangen Weggefährten und Gegenspieler Aaron Burr.
Das ist eigentlich die monumentale aber einfache, oft gesehene Geschichte von Aufstieg und Fall. In „Hamilton“ wird sie aber mit leichter Hand überzeugend als eine große Erzählung präsentiert, die sozusagen direkt aus der Geschichte auf uns zuwächst. Man versteht sofort, warum dieses Stück am Broadway fünf Jahre ausverkauft war, schließlich ist es ja auch noch amerikanische Geschichte. Und Lin-Manuel Miranda hat nicht nur dynamische Songtexte und ein kluges und witziges Libretto geschrieben, er hat auch außergewöhnliche Musik komponiert. Da steht Hip-Hop neben Pop-Ballade, R&B neben großem Showtableau, das aber nie in einer Riesen-Chorus-Line ertrinkt. Oft ist das 21-köpfige Ensemble in ruhigem, abgestuft mehrstimmigem Gesang zu erleben. Und obwohl es wie in jeder großen Musical-Produktion international aufgestellt ist, versteht man nahezu durchgängig den deutschen Text, der in der kompletten Skala von gebundenem Sprechen über Hip-Hop-Staccato bis zu strahlenden Belting-Bögen dargeboten wird. Wobei an der Wucht, die Thomas Kails Original-Inszenierung auch in der Deutschen Erstaufführung entfaltet, die Übersetzer einen gewaltigen Anteil haben. Drei Jahre lang haben sich der Rapper Sera Finale und der Musical-Profi Kevin Schroeder dieser Aufgabe gewidmet. Heraus gekommen ist der wohl beste deutsche Musical-Text aller Zeiten, was natürlich keine sehr hohe Hürde ist. Aber allein der Wortwitz im zynischen Song des englischen Königs, den Jan Kersjes in drei Auftritten mit immer wieder neuem Pointenfeuerwerk grandios performt, lohnt den Eintritt. Dazu kommen oft gerappte Kaskaden von wilden und nicht selten witzigen Reimen und vor allem die Vermeidung von jenen bekannt gestelzten Formulierungen, aus denen man den Vorgang der Übersetzung herausschmecken kann.
Persönlichkeitsstarkes Ensemble, Perfektion auf allen Ebenen
Das Licht-Design von Howell Binkley, das Sound Design von Nevin Steinberg und die stilisierten Period-Piece-Kostüme von Paul Tazewell sorgen für eine attraktive, wirkungsstarke Oberfläche. Das Timing ist auf allen technischen und dramaturgischen Ebenen perfekt. Die Choreografien von Andy Blankenbuehler muten eher einfach an, geben aber jedem Ensemblemitglied die Möglichkeit des individuellen Ausdrucks, verlangen diesen geradezu, obwohl sie stets auch als Tableau wirkungsvoll sind. Dazu hat die Stage Entertainment ein persönlichkeitsstarkes Solisten-Ensemble zusammengestellt. In „Hamilton“ kann sich – anders als in vielen bekannten Musicals von „Phantom der Oper“ bis „Starlight Express“ – niemand hinter Masken, Effekten oder lauter Musik verstecken. Hier ist Charme gefragt, Ausstrahlung, Durchlässigkeit. Benét Monteiro in der Titelrolle bringt das alles genauso mit wie Gino Emnes als Gegenspieler und Conférencier Aaron Burr und alle anderen. Rein stimmlich ragt Chasity Elaine Crisp als Hamiltons Schwägerin ein wenig heraus und die wunderbar schlank singende Ivy Quainoo als Hamiltons Gattin Eliza hat kurz vor Schluss jenen Moment, ohne den ein Musical dann doch irgendwie unvollständig wäre. Als sie in zartestem Ton von der Gründung des ersten Waisenhauses in New York kündet, bekommen wir etwas, was wir in den gut zweieinhalb Stunden vorher tatsächlich nicht hatten: Kitsch! Hier wird er kurz, kondensiert, mit seriösem Augenzwinkern serviert.
Vielleicht ist „Hamilton“ nicht ganz die „Musical-Revolution“, als die das Stück vermarktet wird. Und es ist sicher kein innovatives, postdramatisches Theater. Aber ein Stück, das einerseits die Figuren in den Mittelpunkt stellt und wirklich Menschen erzählen will und dies auch vermag, und das sich andererseits konsequent der nicht nur musikalischen Sprache heutiger Populärkultur bedient, ohne je in selbstgefällige Oberflächlichkeit abzustürzen – ein solches Stück ist neu und besonders. Und es ist sehr anerkennenswert, dass die Stage Entertainment sich diese unter wirtschaftlichen Perspektiven sicher sehr riskante Produktion zutraut. Und wenn dieser Hamburger „Hamilton“ tatsächlich auch ein kommerzieller Erfolg wird, was ohne Wenn und Aber zu wünschen ist, kann das einiges verändern in der deutschen Musical- und Theaterszene.