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Tanz wie eine Jagd durch die Zeiten

Hofech Shechter / Johannes Wieland: DOG / Science! Fiction! Now!?

Theater:Staatstheater Kassel, Premiere:22.11.2014Einstudierung:Sita Ostheimer, Hofech Shechter (DOG)

Musik wie ein Peitschenknall, Erschrecken, Zusammenzucken. Langsam tauchen aus der schwindenden Dämmerung auf der Bühne tanzende Körper auf. Slow Motion, langsame Bewegungen. Fast ähnlich sind sich hier die Anfänge der beiden Choreographien. Ansonsten: Alles anders. Wie unterschiedlich künstlerische Handschriften sein können, das zeigte sich überdeutlich bei der Uraufführung des doppelteiligen Tanztheaterabends  „DOG/ Science! Fiction! Now!“ im Kasseler Schauspielhaus. Ähnlich wie in den Jahren zuvor hatte Tanzdirektor Johannes Wieland einen international anerkannten Choreographen nach Kassel eingeladen. Diesmal also Hofesh Shechter, 1975 in Jerusalem geboren und längst kein Geheimtipp mehr. Für das Scottish Dance Theatre choreographierte er 2008 mit „DOG“ einen Schnelldurchgang durch die Evolutionsgeschichte.

Sind das Hunde oder Schimpansen, die sich über die Bühne bewegen? Gebückte Rücken, schlenkernde Sprünge, doch dann plötzlich das sich Steigern des Tempos, die Militärparade einer Gruppe, der Einbruch von heftig fröhlicher Folkloremusik. Die Tänzer in völliger Synchronizität, das zackige Abknicken der Arme. Shechter choreographiert die neunköpfige Kasseler Company, mit der er sein „Dog“-Stück neu dachte, mit ungewöhnlichem Bewegungsmaterial in einem kontrollierten Chaos auf der Bühne: schnell wechselnde Bilder zu einem von ihm entwickelten Sound-Track. Wie hier der Mensch auf allen Vieren beginnt und sich dann durch die unterschiedlichsten Arten entwickelt, wie die Tänzer mit minimalen Bewegungen mal Schimpansen, mal Elefanten assoziieren lassen, ist hinreißend: der Tanz wird zur Jagd durch den dunklen Bühnenraum. Wild, anarchisch, fremdartig. Und zwischen all den Urwaldklängen begegnet der Mensch dem Tier: Isadora Wolfe streichelt den vor ihr knieenden Remi Benard; Herr und Hund, eine vorsichtige Annäherung. Wie vollzieht sich die Evolution, indem sie an Grenzen stößt, sich im Schmerz neu entwickelt? Shechters Kasseler „DOG“-Fassung ist rauh, erdig, intensiv. Ein Kritiker hat seinen Tanz einmal mit einem Rockkonzert verglichen. Besser kann man es wohl nicht ausdrücken. 

Eröffnet hat den etwa zweistündigen Tanztheaterabend in Kassel die Choreographie  „Science! Fiction! Now“, in der sich Johannes Wieland mit der Frage der sich vollziehenden und immer schon vorbeigegegangenen Zukunft beschäftigt. Zu Beginn ist es der großartige Akos Dosza, der verloren am Bühnenrand steht, mal lachend, mal weinend, der sich durch die sich küssenden Paare bewegt, einsam, nachdenklich. Am Ende aber ist der Bühnenboden aufgerissen, die Holzbretter beiseite schleudert, die Männer und Frauen graben in der freigelegten Erde, streuen den Boden aus zum Kreis. Vielleicht liegt sie unter den Schichten, die Lösung, unser verschüttetes Ich. Zwei Tänzerinnen bauen ihre Mikros und singen, nein, sprechen ihre Botschaft ihr „Wir finden nichts. No. Now.“ in das Publikum. Lebe dein Leben, wenn nicht jetzt, wann dann? 

Johannes Wieland zeigt in seinem neuen Stück eine sehr klare Choreographie und eine Kasseler Company, die sich durch tänzerische Kraft und Wucht, eine überbordende Dynamik auszeichnet. Wie sich Männer und Frauen wieder und immer wieder in die Arme springen, sind das Bilder vom Ertrinken und Festhalten, wild, furios. Selten auch war Wielands Choreographie so erotisch und sinnlich wie an diesem Abend. Dann steht Rémi Benard  er hat zuvor mit einem hinreißenden Solo brilliert  am Bühnenrand, bewegt seinen Körper nur leicht, steckt sich das Hemd in die Hose (Kostüme: Evelyn Schönwald), alles ein bisschen provokativ, und findet sich dann mit Isadora Wolfe zu einem herausfordernd radikalen Duo. Und über allem und in allem die Botschaft, das Leben nicht an die Zukunft zu verlieren. Mit heftigem Applaus dankt das Kasseler Publikum für einen atemberaubenden Tanzabend.