Foto: Saúl Vega Mendoza ind Melanie Lambrou in „Odyssey" am Saarländischen Staatstheater Saarbrücken © Bettina Stöß
Text:Melanie Suchy, am 5. Mai 2024
Am Staatstheater Saarbrücken verirrt sich eine getanzte „Odyssey“ nach Homer. Dabei trat der Gastchoreograf Bryan Arias doch mit vielen Vorschusslorbeeren an.
Ach, ein alter Mann von anno dazumal, jedenfalls sieht er so aus, mit bauschigem Hemd, Weste, weiten Hosen, Hut und Bart. Er tappt auf flacher Sohle und leicht gekrümmt auf der Bühne in Saarbrücken herum, in seiner entleerten Welt. Streunt mal hierhin, setzt sich mal da hin. Dunkel und neblig ist es. Er wirkt wie ein gestrandeter Alm-Öhi, dem die Berge und der Horizont verlustig gegangen sind. Wann kommt Heidi? Bis dahin knipst er einen kleinen Vollmond an und lässt ihn an einer Angel durch die Luft schweben. Der ist also von der Bahn abgekommen.
Etwas junges Weibliches bekommt der Alte tatsächlich vor die Augen, an die Hände und noch näher, aber erst zum Schluss. Da war alles so furchtbar, was er erlebt hat, also was sich auf seiner Lichtung vor der kaputten Mauer abgespielt hat, dass ihn diese von Schutzanzugträgern ausgepackte blitzblanke Frauenfigur endgültig in den Tod treibt. Oder ihn vom Leben erlöst. Oder so.
Ein Gast in Saarbrücken
Am Staatstheater Saarbrücken, wo Stijn Celis das Tanzensemble leitet – soeben wurde sein Vertrag bis 2026/27 verlängert – kam nun ein Gastchoreograf zum Zug, der bereits etliche Preise gewonnen hat, darunter den FAUST 2020, und von der Kritik hier und da hochgelobt wurde. Bryan Arias choreografiert von Moskau bis Chicago, Wien und Zürich bis Greifswald, aber firmiert in Saarbrücken als „jung“. Deshalb landet die „Odyssey“ in der kleinen Spielstätte Alte Feuerwache.
Die Geschichte der Reise, die Arias darstellen lässt, ist ein Rückblick. Als segele ein Odysseus durch Epochen der europäischen Historie. Aber warum sieht er aus wie ein Waldschrat? Weil er gegen Ende zwei spillerige Bäumchen pflanzt, weil das heutzutage opportun ist oder laut wunderbarem Luther-Spruch trotz morgigem Weltuntergang Apfelbäume eine Lebenschance bekommen sollten? Was die Inszenierung will und was sie tut, findet zu selten zueinander.
Eleni Chava kleidet das Ensemble in klare und nicht immer naheliegende Kostüme. Foto: Bettina Stöß
Tanz am Ende der Welt
Die Kostüme, von Eleni Chava gestaltet, sind deutlich wie in einem altmodischen Kinderstück. Einige zumindest. Es treten auf, Szene nach Szene: zwei Griechen, ein Römer, zwei pseudolustige Barocke, ein strauchelnder Papst, ein modernerer Soldat oder Flieger, ein erschrockenes Märchenmädchen, ein Jude, eine 20er-Jahre-Fröhliche mit Goldfischglas, die klobigen Giftaufräumer und die glatte Frau, wahrscheinlich ein Plastikwesen. Mit viel gutem Willen erkennt man in dem, was sie jeweils paarweise oder solo tun und tanzen, dass sie alle nicht gut genug sind. Dass sie zu blöd sind, einander zu lieben oder sich selber. Und deshalb geht die Welt kaputt. Oder so.
Die Figuren scheinen in der hallig kosmischen Soundlandschaft aus diversen nicht-rhythmischen Musiken samt Regen getrieben zu sein. Auch der Öhi (Hyo Shimizu) erschrickt vor seinen eigenen Händen, biegt sich, hüpft auf einem Bein, stellt sich auf den Kopf, taumelt. Es wird viel getaumelt in der „Odyssey“ und rückwärts gelaufen und am Boden gekrabbelt.
Wilde Bewegungen und Figuren entwickelt Bryan Arias in Saarbrücken. Foto: Bettina Stöß
Gescheiterte Beziehungen in Saarbrücken
Das altgriechische Paar, Mann und Frau in Tuniken mit hübschen Falten, stellt Statuen nach, als fiele ihnen nichts anderes ein. Damit tänzeln sie herum, sie kreiselt, bis das Röckchen fliegt oder stemmt etwas Unsichtbares als Karyatide, er spitzt Zeigefinger, der Feldherr, er trägt sie quergelegt, sie legt ihn übers Knie. Sie haben keinen Spaß beim neckischen Zweier. Das Publikum lacht auch nicht.
Der römische Soldat zeichnet hektisch auf dem Boden herum, als kontrolliere er sein Imperium. Hockt auf Knien und segelt mit ausgebreiteten Armen übers Mittelmeer oder den Ärmelkanal. Macht mit der Hand ein Federbüschel am Helm. Ersticht sich, fällt, kämpft mit etwas, schüttet seinen schweren Kopf von der rechten in die linke Hand. Später tritt er einem anderen Kämpfer gegenüber, mit Hosenträgern und Kappe, die beiden bestaunen und kopieren einander wie im Spiegel, fallen auf die Knie. Jaja, die Weltkriege, soll man wohl denken. Der mit der Kappe bekommt später einen Spielzeugdoppeldecker in die Hand: Er ist also ein Flieger. Er war.
Vorher aber noch ein lustiges Pärchen, das niemand lustig findet: Mit wolligen Perücken und leicht gewinkelten Armen und Fingern spielen sie Anmut, aber ziehen einander an den Füßen. Und er lüpft und trägt sie, als sie schlapp wird. Der Papst oder kirchliche Würdenträger trägt Weiß und ein kleines rundes Käppi und fasst sich wie gewürgt an den Hals. Fällt auf die Knie. Als ein Mädchen in beschmutztem weißen Kleidchen auftaucht und sich schwer atmend an die Brust fasst, hakt sich ein Mann bei ihr ein mit demselben Käppi, aber ohne Wallegewand. Einer Kippa? Sie drehen, rutschen, halten, lassen los. Er steigt über die Liegende, sie macht kurz Handstand, drückt ihren Fuß gegen seine Taille, er kippt sie. Das wird auch nichts mit der Traulichkeit.
Biografie und Choreografie
Choreografisch ist das eine Mischung aus grob und niedlichen Details. Mal hier ein senkrecht hochgestrecktes Bein, mal dort eine Arabesque oder ein Hauruckpartnering: Das belebt keine Beziehungen oder Charaktere.
In einem früheren Interview hatte Bryan Arias erwähnt, dass er für seine „Odyssey“ sein eigenes Leben zur Vorlage nehmen würde. Das tat er dann doch nicht. Er wurde in Puerto Rico geboren. Seine Mutter hatte sich mit 16 Jahren aus El Salvador alleine dorthin aufgemacht. Als Bryan neun war, zog sie mit ihren zwei Söhnen nach New York ins Viertel „Spanish Harlem“. Er wuchs also mit Gesellschaftstänzen auf, trat in Salsa-Ensembles auf, lernte Hiphop und Breakdance. Er studierte Tanz, wurde vom Complexions Contemporary Ballet engagiert und von dort aus ins berühmte Nederlands Dans Theater und zu Kidd Pivot von Crystal Pite in Vancouver. Schon mit 24 Jahren hörte er auf zu tanzen, wollte nur noch choreografieren. Er wohnt inzwischen in Basel. Wahrscheinlich selten.