Szene aus "The privacy of things"

Tanz der Algorithmen

Stijn Celis: The privacy of things

Theater:Saarländisches Staatstheater, Premiere:12.05.2023 (UA)Musikalische Leitung:Martin Hennecke

Das Saarländische Staatstheater sucht neue Wege der künstlerischen Schöpfung. Im Tanz-Stück „The privacy of things“ wird Musik und Licht von einer künstlischen Intelligenz generiert. Die Choreografie von Stijn Celis entwickelt auch abseits des Konzepts schöne Momente.

Eine KI generiert nie etwas aus dem Nichts und braucht immer eine Motiv-Basis, aus der sie Optimierungsempfehlungen entwickelt. Das wurde in der Uraufführung „The Privacy of Things“ am Saarländischen Staatstheater an wichtigen Mitteln neben dem Tanz und dem einmal mehr bestechend entwickelten Raumkonstrukt von Sebastian Hannak deutlich. Die Kostümdesignerin Laura Theiss gab bei ChatGPT einige konzeptrelevante Schlagworte ein und erhielt prompt nützliche Ratschläge: Die KI empfahl Flipflops für das Tanzensemble – und jede Menge Smartphones als wichtigste Requisiten.

Diese Weisungen wurden vom Produktionsteam aber sofort und einstimmig verworfen. Zwei Mini-Gruppen aus dem Saarländischen Staatsorchester waren in der Alten Feuerwache auch dabei. Diese wurden mit Algorithmen aus Befragungen der Tanzkompanie zu Aufmerksamkeitskultur und Emotionen gespeist und aus diesen digitalen Ergebnisse das musikalische Probenmaterial verwendet. Weil die KI irgendetwas zum Modifizieren braucht, suchte der musikalische Koordinator Martin Hennecke bei Claudio Monteverdi, Heinrich Schütz und Johann Pachelbel möglichst gut erkennbares Tonmaterial. Im zweiten Teil werden die Algorithmen zusätzlich mit den (natürlich bei jeder Aufführung anderen) Ergebnissen der Publikumsbefragung gespeist. Das veränderte die Noten auf den Tablets der Musiker:innen und beeinflusste fixierte wie improvisierte Tanzszenen.

Haben Sie das kapiert? Wenn nicht, auch nicht schlimm. Denn in den 75 Minuten von „The Privacy of Things“ häuft sich fast zu viel Spekulatives, Hypothetisches und Experimentelles. Dass der Abend trotzdem unterhaltsam und keineswegs überfrachtet geriet, liegt an der Verspieltheit der Kompanie und der heiteren Neugier der Musizierenden auf die für klassische Orchester ungewohnten Aufgaben. Was für die Kreativen auf Leitungsebene immer und Produktionsteams häufig artistisches Neuland bedeutet, ist für den Neuen Tanz schon längst Schnee von gestern: Nämlich das Füllen von Zeiträumen mit erarbeitetem Bewegungsvokabular und das Erreichen vereinbarter Positionen zum gleichen Zeitpunkt. Insofern war der Tanz auch der klarste und wirkungsvollste Teilbereich der Premiere.

Boost für die Musik der Zukunft

Diese Produktion ist Phase 2 eines mit einem Konzert im November 2022 begonnenen Experiments: Martin Hennecke, Solo-Paukist des Saarländischen Staatsorchesters, hatte sich im Austauschprogramm „Kunst trifft Wissenschaft“ mit der Helmholtz Information & Data Science Academy, der Akademie für Theater und Digitalität des Theaters Dortmund, dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt sowie dem Max-Delbrück-Centrum für molekulare Medizin zusammengetan. Es ging darum, mit digitalem Material „die Musik in die Zukunft zu boostern“. Das Auditorium nahm mittels einer Befragung, deren Ergebnisse Algorithmen in Notenwerte umwandelten, in einer App Einfluss auf das Konzertgeschehen. In Charles Ives‘ „The Unanswered Question“ mogelten sich veränderte Noten in die originale Partitur: Nach dem gleichen Verfahrensprinzip änderten sich im Schlussteil von „The Privacy of Things“ der Tanz, das Licht (Olaf Lundt), die Musik und die Projektionen.

Der nächste neue Theaterberuf ist – wenn man an die Zukunftsfähigkeit von Synthesen aus humaner Kreativität und KI glaubt – die Softwareentwicklung. An diesem Abend war Benjamin Wolff der unauffällige wie unverzichtbare Mann im Hintergrund. Ziemlich laut denkt man am Saarländischen Staatstheater bereits über Projektphase 3 nach, in der es vielleicht ein KI- und algorithmenbasiertes Musiktheater geben soll.

Ein formaler Clou war, dass Sebastian Hannak auf der Bühnenfläche Sitzgelegenheiten für Publikum einrichtete und auf der Zuschauertribüne Flächen für Tanz und Musik setzte. Laura Theiss steckte die Tänzerinnen in Ganzkörperbodies – in neonfarbene, teilweise mit stylishen und perforierten Mustern.

Zwischen privat und öffentlich

Zukunftspionier ist die Saarbrücker Tanzkompanie auch darin, dass sie von binären Geschlechtskategorien abrückt. Die schwindenden Zäsuren zwischen Privat und Öffentlich, zwischen Kollektiv/Sozial und Individuell wurden in cooler Präzision sinnfällig. Kontur und Form geben Hannaks weiße Bodenflächen und Mauerlinien. Die Fluktuation der Annäherungen, Abstoßungen und Vereinigungen ähnelte der Darstellung von Elektronenbewegungen aus dem Physikunterricht.

In Projektionen erscheinen nostalgische Gegenstände mit privater Ausstrahlung und in Pigmente zerfallende Silhouette-Doubles der Tänzerkörper. Durch sehr exponierte Beinarbeit und das virtuos zirkulierende Gestenspiel der Finger erhält Stijn Celis‘ Choreografie flirrende Bewegtheit. Am wohlsten fühlen sich die Individuen, wenn sie sich in uniformen Reihenpositionen von den Strapazen ihrer Zirkulationen in der anonymen Öffentlichkeit erholen dürfen. Sie haben kaum noch Emotionen, Körperkontakte wirken wie ein schnell erschöpfter Magnetismus. Manchmal sprechen die Tanzenden, nennen sie ihre Namen und zitieren in ihrer Muttersprache Texte aus der Publikumsbefragung.

Eine gewisse Privatheit ist unverzichtbar, weil jede intime Äußerung ihren Weg vor die digitale Weltöffentlichkeit findet. Wie aber kann diese Privatheit aussehen? Da geben Celis, die Kompanie und das Daten-Raunen aus dem Publikum keine Antwort. In fast Brecht’schen Sinne ist „The privacy of things“ eine Versuchsaufstellung mit widerruflichen Zwischenergebnissen, soll auch nicht mehr sein. Das Schöne an dem Abend: Er bleibt nicht bei der trockenen Anordnung. Man kann das Experiment auch ohne Kenntnis seines wissenschaftlich-experimentellen Konzepts goutieren und erlebt dann ein brillantes geometrisches Spiel über Existenz ohne Privatheit. Das künstlerische Ergebnis ist bestechend und eindrucksvoll.