Szene aus "Exhausting Space"

Auf der Suche nach menschlicher Nähe

Jone San Martín, Ivan Pérez: Legítimo/Rezo & Exhausting Space

Theater:Pfalztheater Kaiserslautern, Premiere:08.07.2023

Zum ersten Mal ist die Tanz-Kompagnie des Pfalztheaters zu Gast in der Fruchthalle Kaiserslautern. An den drei gezeigten Choreografien waren Jone San Martin, William Forsythe und Iván Pérez beteiligt. Es sind Stücke voller starker Bilder über das Zusammenleben.

Die Szenerie ist ungewohnt: Das Publikum sitzt in der Fruchthalle in Kaiserslautern im Quadrat um die Tanzfläche herum – ein Raumkonzept, das eine neue und ungewohnte Intimität entstehen lässt. Hier zeigen die international renommierten Choreografen Jone San Martin und Iván Pérez ihre Arbeiten „Involuntary Meters“, „Legitimo/Rezo“ und „Exhausting Space“ zum Ausklang der Spielzeit des Pfalztheaters.

Narziss und Echo in Kaiserslautern

Auf der weitgehend leeren Tanzfläche sind nur zwei Notenständer mit Spiegeln zu sehen. Das ist der Ausgangspunkt, von dem aus Jone San Martin ihre Version der Geschichte von Narziss und Echo erzählt. Ohne Worte, nur durch den Ausdruck des Körpers im Raum, der durch die Struktur der Bewegung zum Erzähl-Raum wird. Nach und nach treten die Tänzerinnen und Tänzer von der Seite auf. Dumpfe Geräusche werden leise wahrnehmbar. Ein Tänzer lockert seinen Körper, er blickt sich suchend um. Dabei nähert er sich den Spiegeln und schreckt zunächst vor seinem Spiegelbild zurück.

Abrupt setzen Stimmen ein, sie formen ein Echo. Zwei Tänzerinnen kommen dazu. Sie finden sich zu einer Dreieckskonstellation zusammen. Ihre losgelöst wirkenden Stimmen scheinen in die Körper einzudringen. Sie bauen sich in trotzig-bedrohlichen Posen voreinander auf, erobern sich in unterschiedlichsten Stellungen und Haltungen den Raum. Sie erspüren dabei ihren Körper und seine Beziehung zum anderen und zum Raum in einem sehr intimen Erfahrungsprozess. Eine neue Gruppe von Tänzern betritt die Fläche – sie nehmen Kontakt auf. Zu parallel korrespondierenden Bewegungen setzt Musik ein. Zwei Tänzerinnen schrecken vor ihrem Spiegelbild zurück, irritiert flüstern sie „Wer ist da?“, „Wer seid ihr?“.

Schließlich finden sich vier Körper Rücken an Rücken in einem unruhigen Bewegungsprozess. Sie haken sich unter, hängen zusammen, ringen um den eigenen Platz in diesem Beziehungsgeflecht der Körper. Derweil posieren die beiden anderen Tänzerinnen vor ihren Spiegeln. Beide Gruppen erkunden Körper, den des anderen oder den eigenen. Die verhalten einsetzende Musik ist spannungsgeladen. Zu ihrer eigenen Identität oder einander finden sie dabei nicht, unverkrampfte Nähe ist nicht möglich.

Aufgabenstellung für Tanz

„Legitimo/Rezo“ beruht auf einer Ursprungsidee des bekannten amerikanischen Choreografen William Forsythe, in dessen Frankfurter Compagnie Jone San Martin lange Mitglied war. Die Choreografin tritt in Trainingskleidung auf. Locker plaudert sie über ihre Zusammenarbeit, beschreibt die Aufgaben, die Forsythe ihr für diese Choreografie gestellt hat. Das Stück soll ganz ohne Musik auskommen und sie muss einen Schnurrbart tragen, die dritte Aufgabe darf sich erst in der Realisierung erschließen.

Mit ihrem Schnäuzer erinnert sie an Salvador Dali, ihre Bewegungen dagegen rufen Assoziationen mit Charlie Chaplins „Modern Times“ wach und entstehen aus rhythmischen Impulsen. Auch auf Stimmen reagiert ihr Körper ungemein expressiv und baut eine Erwiderung auf, Fragmente aus Bewegung und Stimme blitzen auf wie in einem Kaleidoskop und begegnen sich in einem packenden Spannungsfeld zwischen Abstraktion und Konkretheit. Selbstvergessen verliert sich die Tänzerin in Slow Motion in einem magischen blauen Licht in einer mystisch-verinnerlichten Bewegung, die in sich ruht, bevor sie zu dem Stimmengewirr „A Happy Dream“ die Bühne verlässt.

Zwischen Leben und Hass

In „Exhausting Space“ von Iván Pérez, entstanden als Reaktion auf die Anti-Homosexuellen-Gesetze 2013 in Russland, treffen zwei Gruppen aufeinander. Je zwei Tänzerinnen und ein Tänzer begegnen sich, nehmen über Blicke und Raum greifende Bewegungen Kontakt zueinander auf. Die dumpf dröhnende Musik von Rutger Zuydervelt lässt eine vibrierende Spannung aufkommen, die immer intensiver wird. Vereinzelte Glockengeräusche wirken strukturbildend. Beide Gruppen erkunden ihre Körper im Raum und ihre Beziehungen zueinander.

Dabei bewegen sie sich um zahlreiche schwarze Eier auf der Bühne: Symbole für Leben und Fruchtbarkeit, die sich aber auch zu Waffen des Hasses wandeln können. Helle, mechanisch hämmernde Geräusche lassen eine Konfliktsituation aufkommen, nach einem Wechsel der Geräuschkulisse hin zu Gewittergrollen liegen alle auf dem Boden und spüren dem Rhythmus ihres eigenen schweren Atems nach. Als sie wieder aufstehen, wird das Spiel mit den schwarzen Eiern zu einem von ihren Körpern Besitz ergreifenden rhythmischen Muster, es bilden sich an Kampfsport erinnernde Haltungen heraus.

Dröhnende Gongs initiieren ritualisierte Gewalt, eine Tänzerin wird zu Boden gedrückt. Ein anderer Tänzer versucht sich im Raum zu behaupten, zuckt unter dröhnenden Geräuschen wie unter einer Folter. Er geht zu Boden, lang gestreckt, die anderen drapieren die schwarzen Eier um seinen sich windenden Körper herum wie in einem Akt der Kreuzigung. Dann reichen alle zu mystischer Musik wie in einem rituellen Akt die Eier wie eine Hostie weiter an das Publikum – wir alle müssen uns entscheiden und zu Befreiung und Nähe, zu menschlicher Interaktion finden.