Foto: „Die Affäre Rue de Lourcine” am Gostner Hoftheater in Nürnberg © Gisela Hoffmann
Text:Dieter Stoll, am 4. April 2019
Bei den beiden kaum miteinander bekannten Herren, die sich da etwas desorientiert vom gemeinsamen Nachtlager in die ungewisse Migräne-Zukunft des neuen Tages hinauf gerappelt haben, darf man wahlweise von Saufkumpanei oder Schicksalsgemeinschaft sprechen. Am Abend vorher hatten sie beim Ehemaligen-Treffen ihrer Schule bis zur Bewusstlosigkeit gezecht, immerhin irgendwie die rettende Zuflucht für den Promille-Abbau erreicht, und nun erwachen sie inmitten bürgerlicher Kulisse im restalkoholgeschwängerten Dunst der Ahnung einer kriminellen Katastrophe. Hat das Jammer-Paar mit den schwarzen Flecken an Hand und Seele, das dem Filmriss der betäubten Kurzzeit-Erinnerung ausgeliefert ist, womöglich allen Anlass, im eigenen Blackout jede Möglichkeit von Schuld zu vermuten?
Ein „Kohlenmädchen“ wurde laut Meldung in der Morgenzeitung ermordet. Passen da die schmutzigen Finger und die flatternden Gedanken nicht wie die Faust aufs Auge? Der Selbstbezichtigungs-Automatismus der zweifelhaften Wohlanständigkeit springt wie ein Motor an. Wie sich die zappelnden Männer, knapp vorbei am finalen Gewissensbiss und immer entlang an groß- und lossprecherischer Verschleierungstaktik durch die schreckensreich komische Vermutungs-Situation tasten, das ist „Die Affäre Rue de Lourcine“. Der französische „Lustspiel-Autor“ Eugène Labiche, den man zu seinen emsigsten Jahren um 1860 wohl als Fließbandschreiber bezeichnet hätte, wäre der Begriff damals schon einer gewesen, hat (nach einem unwiederholbaren Luxus-Comeback von „Das Sparschwein“ an Peter Steins Schaubühne) nur noch die künstlerisch besonders elastische, zu schätzungsweise 99 Prozent aus dramaturgischem Knetgummi bestehende „Affäre“ im zeitgenössischen Spielplan. Sie verlockt allerdings gerade deshalb nach wie vor die Größten, die im Jux-Material die Chance zu formbarem Hintersinn für Edel-Mimen finden, zuletzt am Wiener Burgtheater und am Deutschen Theater in Berlin. Dass eine kleine, freilich fein aufgestellte Alternativ-Bühne wie das im Herbst auf bemerkenswerte 40 Jahre zurückblickende Gostner Hoftheater in Nürnberg nach dem Text in der dialogschärfend kantigen Übersetzung von Elfriede Jelinek greift, zeugt von Mut, passt aber nahezu logisch in die Tradition des Hauses. Hier gab es bereits erstklassige Produktionen von Yasmina Reza und Marius von Mayenburg. Pointendrechsler Labiche ist hier im Geist des Übermuts nicht fremd, aber neu als Untermieter.
Für ihre Gostner Inszenierung baute Regisseurin Britta Schreiber selber die Bühne, damit da schon mal keinerlei Irrtümer aufkommen können. Sie will keine Boulevard-Schäkerei, keinen rasenden Alternativ-Feydeau, keine Spießer-Attacke, keine Behauptung von nachhaltiger Tiefgründelei – aber durchaus risikofreudig beim Nachwürzen der Komik von allem eine kräftige Prise zur Aromapflege. Die Wand im Salon, der Lebens- und Spielraum zugleich ist, hat nicht nur eine Vase voller Blumen als unbefangen genutzter Freudenquell für durstige Sünder, aus dem angrenzenden Schlafzimmer mit erweiterter Schießscharte ragt auch eine Rutschbahn in die Szene, wo wehende Gardinen, tückische Bettvorleger und erlesen geschmacklos kostümierte Randgestalten mit dem gleichem Wildtierfell-Muster wie die Stuhlbezüge bereit stehen. Zunächst geben zwei geschminkte Männer den Ton an, indem sie mit klimpernden Wimpern und gendernden Stimmen die verunsicherten Herrschaften parodieren. Später werden sie bei laufendem Dialog auch Kostüme und Requisiten wechseln, ohne jede Bremsspur die Rollen wie Staffelhölzer weiterreichen und in allergrößter Selbstverständlichkeit die Möglichkeit von Mord als pragmatische Wiederherstellung der Ordnung durchexerzieren. Alles nur, weil das Leben voller Irrtümer, der Alkohol gelegentlich folgenreich und die schwangere Ehefrau ein Hausdrachen ist. Jaja, die Aufführung lädt uns zum beliebten Blick in bürgerliche Abgründe ein – und zeigt, dass da nur ein Sandkasten-Spielplatz zu sehen ist. „Lass es gut sein, aber lass uns auf der Hut sein“, trällern die Beteiligten, denn ohne ein Tröpfchen „Musical“ ist ja heutzutage die Moral kaum noch verdaulich.
Thomas Witte bleibt als ertappter Bürger mit jederzeit löschbarem Bewusstsein die feste Größe, um die sich die anderen Akteure (hier eher konzentriert als reduziert auf die genießerisch irrlichternden Komödianten Robert Arnold, Jürgen Heimüller und Helwig Arenz, die im Dauersalto durch alle erreichbaren Zirkusreifen springen, und ein verbales Final-Furioso von Christin Wehner) im glucksenden Wirbel drehen. Witte, der begnadete Beiseite-Sprecher und Gegen-Zwinkerer, lässt da dem bräsigen Allzweck-Humor, der Labiches allerspeziellstes Können war, kaum eine Chance. Poetisierende Hochstapelei schließen Regisseurin Britta Schreiber und ihr munter mit Spielzeug-Teilchen hantierendes Ensemble kategorisch aus. So wie man gesprächsweise wie abgehoben aus der Rolle fallen kann, so rutschen die Darsteller hier hinein in ihre Charakter-Vignetten. Es sei denn, es ergibt sich unabweisbar ein Monument der Groteske. Wenn Thomas Witte als Rentier, der uns da bereits als „das große Rindvieh“ aus Schülertagen ans Herz gelegt wurde und Robert Arnold als gegenwärtiger Trunkenbold mit dem verblichenen „Streber“-Ruf gleichzeitig beschließen, zur Verbesserung der eigenen Lage den Partner umgehend zu erdrosseln, ist das in der realen szenischen Ausführung für vier Hände und zwei Kehlen einfach wunderbar dämlich: Synchron-Würgen, das sollte man für Olympia anmelden.
Man kann nicht sagen, dass am Ende der „Affäre Rue de Lourcine“ die Lust auf mehr Witz aus dieser Ecke sprunghaft gestiegen ist – aber man kann ihn jetzt besser mit spitzen Fingern einsortieren. Das Premierenpublikum war hörbar amüsiert.