Foto: Szene aus der Choreografie von Andonis Foniadakis © Regina Brocke
Text:Manfred Jahnke, am 2. März 2017
Wie die Zeit im Fluge vergeht. Schon zehn Jahre lang besteht Gauthier Dance, die Dance Company am Theaterhaus Stuttgart. Bei der Gründung 2007 war kaum vorher zu sehen, welch steilen Aufstieg diese Gruppe nehmen würde. Dabei war der ehemalige Tänzer am Ballett Stuttgart, Eric Gauthier, nur mit dem Anspruch angetreten, Menschen für modernes Tanztheater zu begeistern, nicht nur über Aufführungen, sondern auch vor Ort in der Sozialarbeit. Und mit einem Gespür für Entertainment: „Von Beginn an wollte ich nach einem leichten Einstieg Anspruchsvolleres bieten“, sagte er der Lokalpresse in einem Gespräch. In den vergangenen Jahren hat er hervorragende Choreografen zu seiner Compagnie geholt. Zum zehnjährigen Jubiläum ist es ihm nun gelungen, seine Wunschliste von Choreografen, die für die Entwicklung der Persönlichkeiten in seiner Gruppe absolut notwendig sind, abzuarbeiten, wie er in seinem charmanten Plauderton im Programmheft berichtet.
„Big Fat Ten“ verbindet sieben verschiedene kleine Tanztheaterstücke zu einem grandiosen Abend, der nicht nur beeindruckende Persönlichkeiten auf der Bühne zeigt, sondern auch eine verblüffende stilistische Vielfalt. Fünf dieser Choreografien sind Uraufführungen, zwei weitere „Diamanten“ der modernen Tanztheatergeschichte. Auf einer total vernebelten Bühne im roten Licht erarbeitet die Kanadierin Marie Chouinard mit Anna Süheyla Harms ihre 1994 entstandene Choreografie „Prélude à l’Après-Midi d’un Faune“ nach der Musik von Debussy. Harms entwickelt dabei ein Bewegungsrepertoire mit großen Gesten von archaischer Qualität. In „Violoncello“ (1999) lässt Nacho Duato (Spanien) nach der Musik von Bach Maurus Gauthier als Cellist und Sandra Bourdais als Bogen auf engsten Raum agieren. Bestimmt von einer starken Körperlichkeit entsteht eine skulpturhafte Präsenz, die dynamisch sich ständig neu formiert. In der Uraufführung von „My best enemy“ übersetzt Itzik Galili Entertainment pur in die Bewegungsabläufe des Showbiz mit großem Unterhaltungswert um. Nur mit Worten agieren Rosario Guerra und Jonathan dos Santos mit großem Spaß, während Alessandra La Bella auf ein marylinhaftes Nummerngirl reduziert ist.
Mit „They’re in your head“ entwickelt Alejandro Cerrudo mit 15 Tänzern und Tänzerinnen aus dem Dunkel heraus – nur eine Reihe von Neonröhren erhellt zunächst den Raum – eine Choreografie der schnellen Tempiwechsel, von aggressiven und zärtlichen Emotionen, immer neu formiert sich das Ensemble. Mit großer Dynamik wird da abgebildet, wie sich die Gedanken im Kopf überschlagen, sich streiten, sich neu formen und wieder chaotisch sich auflösen. Bewundernswert auch, wie es Cerrudo gelungen ist, die Bewegungsabläufe trotz der überbordenden Dynamik synchron zu gestalten. In „Sweet, Sweet“ von Johan Inger agieren zur Musik von Jeff Buckley drei Frauen in glitzernden schwarzen, bzw. einem roten kurzen Kleidern als drei Grazien. Inger ließ sich von einem Foto von Sally Mann inspirieren. Anneleen Dedroog, Francesca Ciaffoni und Garazi Perez Oloriz verkörpern mit ihren Bewegungssprachen zugleich die Zartheit wie die Kraft, aber auch das Geheimnisvolle der Frauen auf eine poetische Art und Weise. Besonders Dedroog beeindruckt durch ihre Persönlichkeit.
Seit 2006 feiert Eric Gauthier mit seinem Solo „Ballett 101“, in dem er die 101 Grundschritte des Balletts virtuos vorführt, Lacherfolge. Nun, zum 10-jährigen Jubiläum, kreiert er mit „Ballett 102“ die 102 Schritte des Pas de deux. Auf Spitzenschuhen tanzen Barbara Melo Freire und Theophilus Veselý auf Ansage die Abfolgen eines pas de deux virtuos vor. In der Wiederholung lässt Gauthier die Szene ins Surreale kippen, grandios, wie das auf Pointe gesetzt ist. Wenn er über seinen Kollegen Andonis Foniadakis, der mit „Streams“ für einen furiosen Abschluss des Abends sorgt, sagt, dass dieser „the sunny side of modern dance“ verkörpere, dann dürfte diese Position auch Gauthier für sich beanspruchen, wenn er auch in „Ballett 102“ mit dem klassischen Repertoire arbeitet. Wenn diese Choreografie sozusagen den komischen Höhepunkt des Abends bildet, dann bringt Foniadakis zur Musik von Julien Tarride mit dem Ensemble einen Energiestrom auf die Bühne, der mir als Zuschauer den Atem nicht. Schnelle Wechsel, wie aus dem Nichts, treiben die Handlung voran, in der kein Bleiben ist, nur der Wechsel, kraftvollen Aktionen mit immer neuen Anfängen, ein Perpetuum Mobile.
Erstaunlich auch, welches Händchen Gauthier nicht nur bei den Engagements seiner Tänzer und Tänzerinnen und Choreografen hat, sondern auch in seinem dramaturgischen Wissen. Der Abend ist in sich stimmig aufgebaut. Und irgendwie ist man enttäuscht, dass der Abend ein Ende hat, er hat süchtig gemacht. Kurz: „Big Fat Ten“ setzt die Erfolgsstory fort.