Foto: Tanzperformance aus „100 Leidenschaften“ © Pawel Sosnowski
Text:Volker Tzschucke, am 23. Juni 2024
In einem Doppelabend zeigt die Dresdner Staatsoperette „Die Sieben Todsünden / 100 Leidenschaften“, ein Ballett von Kurt Weill und Bertolt Brecht sowie eine Performance der Sebastian Weber Dance Company mit Musik von Konrad Koselleck. Beide Teile sind auf hochklassigem Niveau, grenzen vielleicht sogar an zu viel Bildgewalt und Anspruch.
Zwei Scheinwerferkegel erstrahlen vom Bühnenhimmel. Am Boden treffen sie sich genau in der Mitte, bilden einen hellen Lichtkreis. Als sie auseinanderfahren, betreten zwei Annas die Szene: Sie haben „ein Herz und ein Sparkassenbuch“, aber zwei Lichtkegel. Sind sie eins? Sind sie zwei diese Damen, die von ihrer Familie in sieben Großstädte hinausgeschickt werden, um Geld für ein kleines Häuschen in Louisiana am Mississippi zu verdienen? Es ist eine Frage, die wohl so alt ist wie Brecht-Weills Opernballett „Die sieben Todsünden“ selbst (also bald 100 Jahre) und die auch hier bis in die Übertitel hinein unaufgelöst bleibt: Spricht der Brecht‘sche Originaltext über die Anna(s) von einem Plural-„sie“, gibt es im Englischen das singuläre „she“.
In dieser Dresdner Inszenierung jedenfalls sind sie sich optisch unheimlich ähnlich, dabei aber weniger starr als im Textbuch ihren Rollen Anna I und Anna II verhaftet: Beide dürfen lieben und leiden. Beide dürfen singen und tanzen. Und vor allem deshalb gehört es zu den ausgesprochen guten Ideen von Regisseur und Choreograph Jörn-Felix Alt, die Annas mit zwei Musical-Fachkräften zu besetzen, denn die können eben beides: singen und tanzen (und auch noch schauspielern).
Aus Sophie Berner als Anna I, Erzählerin der eigenen Geschichte und managendes Über-Ich für Anna II, kitzelt Alt eine Gisela-May-Attitüde heraus, die man kaum erwartet hatte. Dass sie dabei kein bisschen unzeitgemäß klingt, ist allein Berners Verdienst, und spontan wünscht man ihr die Drei-Groschen-Polly als nächstes Rollenangebot und würde auch ein paar Reisekilometer in Kauf nehmen, um das sehen zu dürfen.
Ballett von Größe
Jasmin Eberl als künstlerisch begabte Anna II singt weniger, harmoniert dafür tänzerisch aufs Beste mit dem 16-köpfigen Ballettensemble der Staatsoper und darf sich selbst zur Königin krönen. Das Ballett eben in dieser Größe einzusetzen, folgt zwar der originalen Stückintention, ist dennoch nicht mehr allzu häufig so zu erleben. Die Tänzerinnen und Tänzer bilden in aus Baugerüsten und Neonröhren komponierten wechselnden Stadtlandschaften die Gesellschaft: flanierende Pärchen, gaffende Cabaret-Besucher, Filmcrews. Die Choreografien sind abwechslungsreich und zum Teil überbordend.
Jasmin Eberl und Sophie Berner in „Die sieben Todsünden“. Foto: Pawel Sosnowski
Hinzu tritt eine dritte Ebene: die Familie, gebildet aus vier Herren des Ensembles (Marcus Günzel, Riccardo Romeo, Gero Wendorff, Gerd Wiemer), die das Wirken und Werden der Annas aus der Ferne beobachtet und kritisch bewertet und mit deren wachsendem Erfolg zunehmend degeneriert. Am Ende dürfen die Annas nach Hause kommen und sich ins Familienfoto einsortieren. Dass man als Textunkundiger vielleicht nicht jede der sieben Todsünden und die Art, wie sie erzählt werden, nachempfinden kann, wirkt angesichts der Bildgewalt, der musikalischen und darstellerischen Qualität dieser Inszenierung verzeihlich. Pause.
Zweiter Teil des Abends
Und dann: „100 Leidenschaften“. Ein Mädchen stürzt durch eine Tür im eisernen Vorhang und landet im Kaninchenbau: Dystopisch wallt Nebel über Körperteile, die nach und nach sich erheben. Es ist der Auftakt für eine gut einstündige Stepptanz-Performance, die besser als „Stepp-Tanz-Performance“ tituliert wäre und mit den „Sieben Todsünden“ korrespondieren soll. Sie handelt von kleinen und großen Katastrophen – Krieg, Klimakrise, Flucht, Diskriminierung, Liebe – und davon, wie sie gemeinschaftlich zu bewältigen sind. Auch hier: überbordende Choreografien, die sich Sebastian Weber in diesem Auftragswerk für seine Company ausgedacht hat. Schnell gibt man es auf, jedes Bild entschlüsseln zu wollen, es sind derer zu viele in zu großer Gleichzeitigkeit.
Stattdessen lässt man sich hineinziehen in die Dynamik, die die 13 Stepp- und drei Balletttänzer hier entwickeln, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass man schon eine Stunde hochklassiges Theater zu verarbeiten hat. Was hier aufgeführt wird, bietet alle Facetten zeitgenössischen Tanzes und eine ganz eigene Interpretation des Stepp. Wenn sich die Füße nicht bewegen, sind es die Hände, die auf Körperteile klatschen. Und es sind die Perkussionisten im Orchestergraben, die Höchstleistungen vollbringen.
Vielfalt in Komposition und Choreographie
Die für diesen Abend von Konrad Koselleck geschaffene Komposition verwebt das Klacken der Steppschuhe mit dem Prasseln der Becken, dem Kling-Klang des Xylophons. Peter Christian Feigel am Dirigentenpult fügt all das zusammen – und noch viel mehr. Denn vielfältig wie die Choreografie ist auch die Komposition. Sie müsse mit der Besetzung des Weill-Balletts spielbar sein, so die Vorgabe – und die eröffnet ganz offensichtlich jede Menge Möglichkeiten von Swing über Jazz über elegische Streichersentenzen bis hin zu powervoller james-bondiger Filmmusik. Fast rauschhaft holt Feigel all dies aus dem Orchester der Staatsoperette heraus. Wie gut die einzelnen Akteure auf und vor der Bühne hier wirklich sind, lässt sich im Zusammenklang nur erahnen, doch bekommt jede Gruppe – Stepper, Tänzer, Musiker – kurze Phasen, wo sie allein agiert: Zeit auch fürs Publikum, bewusst wahrzunehmen.
Und so ist das ja oft bei Leidenschaften: Mit einer gewissen Erschöpfung geht es zu Ende, vor allem auch in den Publikumsreihen. Aus denen erheben sich in einem letzten Kraftakt stehende Ovationen. Und die Gewissheit: Die beiden Teile dieses Doppelabends, sie würden ohne Zweifel auch jeweils allein bestehen.